Ausgabe 04 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1907

26. April bis 30. Mai

Der Verfasser eines „Handbuches für Terroristen" steht am 1. Mai vor der 3. Strafkammer des Landgerichts I in der Person des aus der Untersuchungshaft vorgeführten Zigarettenarbeiters Karl Otto Fritz Rothermann. Der 22 Jahre alte Angeklagte, der so aussieht, als ob er kein Wässerchen trüben könnte, steht unter der Anklage des versuchten Verbrechens gegen das Gesetz betreffend die Herstellung, Aufbewahrung und den gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen.

Die Vorgeschichte dieser Anklage hat sich in der Schweiz abgespielt. Wie behauptet wird, sollen in Genf und Zürich seit geraumer Zeit Sammelstätten für die Anarchisten aller Länder bestehen, insbesondere sollen die russischen und polnischen Terroristen daselbst ihre Hauptquartiere haben. Im Frühjahr 1906 entdeckte man in Zürich eine Art Schule zur Herstellung von Sprengmitteln. Es wurde nämlich bei dem als Anarchisten bekannten Schneider Franz Blazek eines Tages eine Haussuchung abgehalten und dabei in einem Koffer eine Sammlung Chemikalien, die zur Herstellung von Explosiv-Bomben benutzt werden, als da sind Pikrinsäure, Schwefelsäure usw., vorgefunden. In einem gleichfalls aufgefundenen Manuskript war eine genaue Anleitung zur Herstellung von Sprengmitteln, Höllenmaschinen, Bomben, Nitroglyzerin usw. enthalten.

Zur Illustration war die Zeichnung einer Bombe neuester Konstruktion beigegeben. Vorgefunden wurde außerdem eine ziemlich umfangreiche Korrespondenz mit Deckadressen, welche zeigte, daß zwischen den Anarchisten aller Länder ein reger Verkehr bestand. Man will daraus ersehen haben, daß in der Blazekschen Behausung öfter anarchistische Zusammenkünfte stattfanden, und daß die Sprengstoffe, Höllenmaschinen und Bomben hauptsächlich für den russischen Anarchisten Schotz angefertigt wurden.

Weiterhin soll die aufgefundene Korrespondenz auch den Beweis erbracht haben, daß auch die Berliner Anarchisten einen sehr regen Verkehr mit ihren Schweizer Gesinnungsgenossen unterhielten. Der genannte Schneider Blazek und der Zigarettenarbeiter Rothermann werden als die Hauptgehilfen des Schotz angesehen, und zwar soll das gefundene Manuskript mit der Anleitung zur zweckmäßigsten Herstellung von Bomben und Höllenmaschinen von der Hand des Rothermann herrühren. Das Schriftstück schließt mit den Worten: Handbuch für Terroristen.

Auf Grund des Sprengstoffgesetzes wurde nach dieser Entdeckung von der Züricher Staatsanwaltschaft gegen Schotz, Blazek und Rothermann Anklage erhoben. Die Angeklagten fanden aber Gelegenheit, rechtzeitig zu entfliehen, und das Bundesgericht in Zürich verurteilte sie in contumaciam, und zwar Schotz zu zwei Jahren Zuchthaus, Blazek und Rothermann zu je einem Jahr Gefängnis und zu dauernder Landesverweisung. Rothermann wurde im Juni 1906 in Berlin gesehen und am 12. September verhaftet und soll sich wegen Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz verantworten.

Der Termin leidet unter dem Mißgeschick, daß der Vorsitzende der Strafkammer, Landgerichts-Direktor Langner, der die umfangreichen Akten und Beiakten durchstudiert hat, plötzlich erkrankt ist und Landgerichtsrat Busch, der statt seiner den Vorsitz übernehmen mußte, das gesamte Aktenmaterial erst am Nachmittag des Vortages zugegangen ist und er unter diesen Umständen nicht in der Lage ist, in einer Verhandlung der komplizierten Sache einzutreten. Der Gerichtshof beschließt, die Verhandlung zu vertagen, lehnt aber den Antrag auf Haftentlassung ab.

Ansätze zum Anarchismus finden sich schon im Altertum, im Mittelalter wie in der neueren Zeit; solange es eine Rechtsphilosophie gibt, fehlte es nicht an Denkern, welche die Notwendigkeit der Rechtsordnung überhaupt verneinten und in dem freiesten Walten des Einzelwillens die vernunftgemäßeste Ordnung des menschlichen Zusammenlebens erblickten. Mit dem Erwachen der Arbeiterbewegung in den 1860er Jahren begann sich unter dem Einflusse russischer Agitatoren die anarchistische Partei zu entwikkeln. Der Begründer derselben ist Michael Bakunin, der seit 1864 in der Schweiz als anarchistischer Agitator tätig war.

Falko Hennig

Foto: Archiv Hennig.

Nächste Veranstaltung mit Falko Hennig am 2. Mai, 20 Uhr, Babylon, Mitte: WELTCHRONIK IV. Gast-Star: Michael Stein. Für die Ewigkeit!
10 bzw. 8 Euro.

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 04 - 2007 © scheinschlag 2007