Von der Dampfmaschine zum frei programmierbaren Computer
Prostitution dient nicht nur der Triebabfuhr, sondern ist kulturell verankert
Wolfgang: „Als Mann hat man ja auch so seine
Bedürfnisse." Klaus: „Als Mann bist du sowieso fast immer
sexbesessen." Rolf: „Dann ist das doch im Prinzip was Positives,
wenn er dann zu der Prostituierten geht, anstatt vielleicht eine Frau
zu vergewaltigen."
Warum es Prostitution gibt und auch geben sollte,
erklären diese drei Männer mit den zwei bekanntesten
Argumenten für die Prostitution: dem vermeintlich stärkeren
Sexualtrieb von Männern im Vergleich zu Frauen und der
vermeintlichen Notwendigkeit, sexuelle Bedürfnisse ausleben zu
können. Diese beiden Argumente sind aber keineswegs gegebene
Fakten. Sie sind historisch gewachsene Annahmen. In ihnen spiegeln sich
unsere sozialen und kulturellen Vorstellungen über Geschlecht und
Sexualität wider.
Im 19. Jahrhundert wurden die Geschlechterbeziehung und
die Prostitution grundlegend umstrukturiert. Dies war zum einen dem
sich emanzipierenden Bürgertum und zum anderen der industriellen
Revolution geschuldet. Im Zuge der Veränderungen im Bürgertum
wurden einerseits vorher bereits existierende Geschlechterbilder in die
Biologie eingeschrieben, z.B. wurde die niedrigere soziale Stellung der
Frau biologisch begründet. Andererseits wurden neue
Geschlechterbilder erfunden, wie z.B. das Bild der liebenden Mutter mit
ihrem Pendant des triebhaften und egoistischen Mannes. Der triebhafte
Mann im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert sollte vor
allem von der Masturbation abgehalten werden. Seiner
größeren Lust mußte Abhilfe geschaffen werden, weshalb
Hygieniker aus der Zeit die Prostitution empfahlen. Die Ehe wurde damit
als Dreieck zwischen Ehemann und -frau und Prostituierten neu erfunden.
Da die Frau als sexuell unempfindlicher und weniger begehrend galt,
konnte sie einerseits als Mutter vollständig entsexualisiert
werden, andererseits schien sie als Prostituierte durch häufige
Sexualakte nicht ermüden zu können. Die einzige Ausnahme
bildeten hier die Hysterikerinnen, bei denen die Prostitution zuweilen
als Kur von ihrem „unnatürlich starken Trieb" angesehen
wurde.
Das zweite Argument speist sich aus sexuellen
Befreiungsbewegungen. Diese gründen sich zum einen auf die
Bewegung sexueller Minderheiten und artikulierten sich auch in den
Arbeiten homosexueller Sexualwissenschaftler. Zum anderen beruhen sie
auf einer kritischen Reflektion des Faschismus, der in den 1960er
Jahren als ebenso sexuell repressiv wie das Bürgertum angesehen
wurde. Neuere Forschungen über Sexualität im
Nationalsozialismus zeigen jedoch, daß Sexualität keineswegs
per se unterdrückt war. Im Gegenteil erfreute sich die
„arische" heterosexuelle Mehrheit sogar größerer
Freiheiten. Sexuelle Minderheiten und alle, die nicht in den
nationalsozialistischen „Volkskörper" paßten, wurden
jedoch in ihrer Sexualität beschränkt.
Die Idee von der Notwendigkeit, sexuelle
Bedürfnisse ausleben zu müssen, stützt sich auf die
Rhetorik sexueller Minderheiten. In Hinblick auf die Prostitution wird
diese Rhetorik genutzt, um das Privileg der Männer, Zugang zu
käuflichem Sex zu haben, weiter zu stabilisieren. Ich sage
„genutzt", denn auch die Freier, die keine speziellen sexuellen
Vorlieben haben oder diese auch außerhalb der Prostitution leben
könnten, verwenden sie. Doch könnte für sie gelten,
daß kommerzielle Sexualität selbst ein spezielles sexuelles
Bedürfnis ist. Weiterhin wurde auch die Doppelmoral
aufrechterhalten: Die Prostitution sei deswegen notwendig, weil Frauen
eben weniger Lust auf Sex hätten. Nur selten thematisieren Freier
die Lust an dem Privileg, sich eine sexuelle Dienstleistung kaufen zu
können.
Doch obwohl Freier sich durch das Internet immer mehr
zusammenschließen, kann immer noch nicht davon gesprochen werden,
daß Freier eine Lobby-Gruppe bilden. Sie setzen sich nicht
öffentlich für die Prostitution ein. Betrachtet man die
Diskussion über Prostitution insgesamt, so zeigt sich sehr
deutlich, daß sie überwiegend von Frauen geführt wird.
Männer ob Freier oder nicht halten sich eher
zurück. So wurde z.B. der Antrag zum neuen Prostitutionsgesetz im
Oktober 2001 vor allem von weiblichen Mitgliedern des Bundestags
entschieden. An der Antragstellung haben auch nur weibliche Bordell-
bzw. Agenturinhaberinnen mitgewirkt. Die Annahmen über Geschlecht
und Sexualität, die die Argumente für die Prostitution
bilden, sind unter Frauen wie Männern noch so dominant, daß
Freier es überhaupt nicht nötig haben, ihre Interessen
öffentlich zu vertreten.
In der Sexualforschung wird heute von der Medizin bis
zur Kulturwissenschaft ganz anders über Sexualität
diskutiert. Statt der Dampfmaschine, die ein Ventil zum Druckablassen
benötigt, dient heute eher der Computer als Modell. Es geht vom
Körper als Grundlage aus. Dieser bietet die grundsätzliche
Möglichkeit sexuellen Begehrens und sexueller Aktivität, die
eingehend medizinisch untersucht werden können. Warum es dann aber
zu sexuellen Handlungen kommt, hängt mit der individuellen
kulturellen Prägung der Akteure zusammen. Wir reagieren nicht wie
eine Maschine auf einen sexuellen Reiz, und es gibt auch physiologisch
gesehen keinen sexuellen Mangel. Vielmehr interpretieren wir bestimmte
Reize als erotisch und sexuell. Es geht daher bei der Prostitution
weniger um die Möglichkeit einer Triebabfuhr, sondern Prostitution
stellt einen sexuell codierten Raum dar. In ihm kann Sexualität
konsumiert werden. Dazu ist es aber notwendig, daß die Freier das
jeweilige Ambiente, das Zeitregime und sonstige Strukturmerkmale
erotisiert haben. Und diese Erotisierung geschieht nicht einfach aus
den Männern selbst heraus. Sie ist kulturell verankert und wird
von der Sexindustrie als Marketingstrategie benutzt. Sabine Grenz
Die Zitate stammen aus einer Studie der Autorin, die 19
Interviews mit männlichen heterosexuellen Freiern geführt
hat.
Sabine Grenz: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum
sexueller Dienstleistungen. VS Verlag für Sozialwissenschaften,
Wiesbaden 2005. 29,90 Euro.