Ausgabe 04 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Von der Dampfmaschine zum frei programmierbaren Computer

Prostitution dient nicht nur der Triebabfuhr, sondern ist kulturell verankert

Wolfgang: „Als Mann hat man ja auch so seine Bedürfnisse." Klaus: „Als Mann bist du sowieso fast immer sexbesessen." Rolf: „Dann ist das doch im Prinzip was Positives, wenn er dann zu der Prostituierten geht, anstatt vielleicht eine Frau zu vergewaltigen."

Warum es Prostitution gibt und auch geben sollte, erklären diese drei Männer mit den zwei bekanntesten Argumenten für die Prostitution: dem vermeintlich stärkeren Sexualtrieb von Männern im Vergleich zu Frauen und der vermeintlichen Notwendigkeit, sexuelle Bedürfnisse ausleben zu können. Diese beiden Argumente sind aber keineswegs gegebene Fakten. Sie sind historisch gewachsene Annahmen. In ihnen spiegeln sich unsere sozialen und kulturellen Vorstellungen über Geschlecht und Sexualität wider.

Im 19. Jahrhundert wurden die Geschlechterbeziehung und die Prostitution grundlegend umstrukturiert. Dies war zum einen dem sich emanzipierenden Bürgertum und zum anderen der industriellen Revolution geschuldet. Im Zuge der Veränderungen im Bürgertum wurden einerseits vorher bereits existierende Geschlechterbilder in die Biologie eingeschrieben, z.B. wurde die niedrigere soziale Stellung der Frau biologisch begründet. Andererseits wurden neue Geschlechterbilder erfunden, wie z.B. das Bild der liebenden Mutter mit ihrem Pendant des triebhaften und egoistischen Mannes. Der triebhafte Mann im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert sollte vor allem von der Masturbation abgehalten werden. Seiner größeren Lust mußte Abhilfe geschaffen werden, weshalb Hygieniker aus der Zeit die Prostitution empfahlen. Die Ehe wurde damit als Dreieck zwischen Ehemann und -frau und Prostituierten neu erfunden. Da die Frau als sexuell unempfindlicher und weniger begehrend galt, konnte sie einerseits als Mutter vollständig entsexualisiert werden, andererseits schien sie als Prostituierte durch häufige Sexualakte nicht ermüden zu können. Die einzige Ausnahme bildeten hier die Hysterikerinnen, bei denen die Prostitution zuweilen als Kur von ihrem „unnatürlich starken Trieb" angesehen wurde.

Das zweite Argument speist sich aus sexuellen Befreiungsbewegungen. Diese gründen sich zum einen auf die Bewegung sexueller Minderheiten und artikulierten sich auch in den Arbeiten homosexueller Sexualwissenschaftler. Zum anderen beruhen sie auf einer kritischen Reflektion des Faschismus, der in den 1960er Jahren als ebenso sexuell repressiv wie das Bürgertum angesehen wurde. Neuere Forschungen über Sexualität im Nationalsozialismus zeigen jedoch, daß Sexualität keineswegs per se unterdrückt war. Im Gegenteil erfreute sich die „arische" heterosexuelle Mehrheit sogar größerer Freiheiten. Sexuelle Minderheiten und alle, die nicht in den nationalsozialistischen „Volkskörper" paßten, wurden jedoch in ihrer Sexualität beschränkt.

Die Idee von der Notwendigkeit, sexuelle Bedürfnisse ausleben zu müssen, stützt sich auf die Rhetorik sexueller Minderheiten. In Hinblick auf die Prostitution wird diese Rhetorik genutzt, um das Privileg der Männer, Zugang zu käuflichem Sex zu haben, weiter zu stabilisieren. Ich sage „genutzt", denn auch die Freier, die keine speziellen sexuellen Vorlieben haben oder diese auch außerhalb der Prostitution leben könnten, verwenden sie. Doch könnte für sie gelten, daß kommerzielle Sexualität selbst ein spezielles sexuelles Bedürfnis ist. Weiterhin wurde auch die Doppelmoral aufrechterhalten: Die Prostitution sei deswegen notwendig, weil Frauen eben weniger Lust auf Sex hätten. Nur selten thematisieren Freier die Lust an dem Privileg, sich eine sexuelle Dienstleistung kaufen zu können.

Doch obwohl Freier sich durch das Internet immer mehr zusammenschließen, kann immer noch nicht davon gesprochen werden, daß Freier eine Lobby-Gruppe bilden. Sie setzen sich nicht öffentlich für die Prostitution ein. Betrachtet man die Diskussion über Prostitution insgesamt, so zeigt sich sehr deutlich, daß sie überwiegend von Frauen geführt wird. Männer ­ ob Freier oder nicht ­ halten sich eher zurück. So wurde z.B. der Antrag zum neuen Prostitutionsgesetz im Oktober 2001 vor allem von weiblichen Mitgliedern des Bundestags entschieden. An der Antragstellung haben auch nur weibliche Bordell- bzw. Agenturinhaberinnen mitgewirkt. Die Annahmen über Geschlecht und Sexualität, die die Argumente für die Prostitution bilden, sind unter Frauen wie Männern noch so dominant, daß Freier es überhaupt nicht nötig haben, ihre Interessen öffentlich zu vertreten.

In der Sexualforschung wird heute von der Medizin bis zur Kulturwissenschaft ganz anders über Sexualität diskutiert. Statt der Dampfmaschine, die ein Ventil zum Druckablassen benötigt, dient heute eher der Computer als Modell. Es geht vom Körper als Grundlage aus. Dieser bietet die grundsätzliche Möglichkeit sexuellen Begehrens und sexueller Aktivität, die eingehend medizinisch untersucht werden können. Warum es dann aber zu sexuellen Handlungen kommt, hängt mit der individuellen kulturellen Prägung der Akteure zusammen. Wir reagieren nicht wie eine Maschine auf einen sexuellen Reiz, und es gibt auch physiologisch gesehen keinen sexuellen Mangel. Vielmehr interpretieren wir bestimmte Reize als erotisch und sexuell. Es geht daher bei der Prostitution weniger um die Möglichkeit einer Triebabfuhr, sondern Prostitution stellt einen sexuell codierten Raum dar. In ihm kann Sexualität konsumiert werden. Dazu ist es aber notwendig, daß die Freier das jeweilige Ambiente, das Zeitregime und sonstige Strukturmerkmale erotisiert haben. Und diese Erotisierung geschieht nicht einfach aus den Männern selbst heraus. Sie ist kulturell verankert und wird von der Sexindustrie als Marketingstrategie benutzt. Sabine Grenz

Die Zitate stammen aus einer Studie der Autorin, die 19 Interviews mit männlichen heterosexuellen Freiern geführt hat.

Sabine Grenz: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005. 29,90 Euro.

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