Blutfleck am Kolle
Das Aktuelle der Vergangenheit stirbt nie, scheinbar
auch nicht an Menschenkinds neuem Halbarm-Business-Hemd an diesem
Morgen, an dem der Mai wohl gekommen ist und die Bäume
ausschlagen. Der berühmte Wonnemonat, der Wollust und
Wirtschaftswachstum verspricht, wenngleich nicht für alle und
jeden.
Menschenkind jedoch sinniert nicht, sondern sammelt sich
im Halbschatten einer alten Kastanie, die seit Jahren das Prädikat
„Ich bin dabei miniermottenfrei!" trägt. Junge
Mütter mit drolligen Kampfhundhybriden und schnittigen
Kleinkindbeförderungsmobilen flanieren vorbei, auch Seniorinnen
und Senioren, die Sommerhütchen keck auf dem Kopfe. Menschenkinds
Schädel brummt, hat er doch einen Ast abgekriegt, der über
die markierte Baumschnittstelle hinaus ihm direkt an die Backe segelte.
So hat er einen Schmiß links vom Kinn und darunter die
Blutstropfensammelstelle am Kragen, die als Kußmund sich
abzeichnet. Da er keinen Taschenspiegel mitführt, hat er das
verräterische Mal an seinem Kragen nicht bemerkt, wohl aber die
süffisanten Blicke des einen oder anderen Passanten registriert.
Er glaubt, auch neidische Blicke auf sich gerichtet zu sehen, als einer
der Baumschneider mit seiner Hebebühne herabschwebt, im
Schlußsprung über die Absperrung hinwegsetzt und vor
Menschenkind stehen bleibt, um ihm kräftig auf die Schulter zu
hauen. Die schwarzen Augen blitzen vor Herzlichkeit. „Ey, Alta,
isso! Von oben, da kommt es, isso, ey Alta! Abba du bist falsche!" Die
Aussprache und die volkstümliche Art zu hippen und zu hoppen
lassen auf Migrationshintergrund schließen. „Wieso ich
falsche?", entfährt es dem Munde Menschenkinds, was nun auch
wiederum auf Migrationshintergrund schließen lassen könnte.
Der Baumschneider lacht, „Machste nichts draus, Alta, bist du so
gaga, kannste Freude haben Tag!".
Kaum haben die Baumschneider den Schauplatz verlassen,
erscheint in Menschenkinds Blickfeld ein weibliches Wesen, noch etwas
fern, aber deutlich erkennbar: Ditte! Ein Weben und Schweben, ein Heben
und Beben folgt dem blauen Bande, das Ditte durch die Luft hinter sich
her zieht. Mein Gott, sie ist überschwenglich, hätte
Menschenkind normalerweise gedacht und sich gewappnet. So aber
hängt er noch lächelnd der zwischenmenschlichen Begegnung mit
seinem Mitbürger nach. Das hätte er sich doch denken
können! Ditte möchte wieder einmal die ganze Welt umarmen,
fällt stellvertretend um Menschenkinds Hals, will ihn herzen und
küssen. Aber was sind das für Knutschflecke? Sie
läßt den Umarmten los, der sich die noch leicht schmerzende
Wange hält „Ich sehe so was gleich, mein Lieber.
Außerdem, deine Larissa hat einen schlechten Geschmack. Auf dem
Kragen, hier, sieh nur hin, blutrot! Dieser Ton ist völlig out!".
Menschenkind weiß nicht, wie ihm geschieht. Als Ditte nun auch
noch an ihm herumschnüffelt, platzt ihm der Kragen: „Ditte
verdammt, denkst du denn, daß ich nach
Maiglöckchenparfüm stinke? Und außerdem ist Larissa
seit zwei Monaten in Kiew oder so. Kann doch nicht wahr sein!" Für
einen Augenblick scheint die Zeit stillzustehen, hier, auf dem
legendären Kollwitzplatz im Herzen der Hauptstadt, an jenem Ort,
von dem viele Berlinliebhaber in aller Welt in ihren Hochglanzmagazinen
nur das Beste in Text und Bild erfahren haben, ja, wo Bill Clinton
herumscharwenzelte und ein gewisser Ossibär unverdrossen wohnen
bleibt (Bären-Problematik!), beäugt Ditte die Schramme auf
Menschenkinds Wange. Gnadenlos. Er verzieht sein Gesicht. „Ist
doch wohl klar eine Schramme und kein Knutschfleck!" Aber Ditte kommt
auf Touren, öffnet in ihrem Oberstübchen die
Spruchbeutelsammlung und zitiert irgendwie hinterhältig:
„Der Einsicht schadet nur Gelehrsamkeit, zu große; besser
als Brillen sieht gesunder Sinn, der bloße!" „Schramme
bleibt Schramme, und Blutfleck ist kein Knutschfleck", kontert
Menschenkind geistesgegenwärtig. „Brautkleid bleibt
Brautkleid." Ditte muß immer das letzte Wort haben. Die beiden
sehen sich tief in die Augen, es kommt, wie es muß: Eine alte
Indianerin schlurft vorbei, unbemerkt auf Mokassins ...
Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek
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