Ausgabe 04 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Blutfleck am Kolle

Das Aktuelle der Vergangenheit stirbt nie, scheinbar auch nicht an Menschenkinds neuem Halbarm-Business-Hemd an diesem Morgen, an dem der Mai wohl gekommen ist und die Bäume ausschlagen. Der berühmte Wonnemonat, der Wollust und Wirtschaftswachstum verspricht, wenngleich nicht für alle und jeden.

Menschenkind jedoch sinniert nicht, sondern sammelt sich im Halbschatten einer alten Kastanie, die seit Jahren das Prädikat „Ich bin dabei ­ miniermottenfrei!" trägt. Junge Mütter mit drolligen Kampfhundhybriden und schnittigen Kleinkindbeförderungsmobilen flanieren vorbei, auch Seniorinnen und Senioren, die Sommerhütchen keck auf dem Kopfe. Menschenkinds Schädel brummt, hat er doch einen Ast abgekriegt, der über die markierte Baumschnittstelle hinaus ihm direkt an die Backe segelte. So hat er einen Schmiß links vom Kinn und darunter die Blutstropfensammelstelle am Kragen, die als Kußmund sich abzeichnet. Da er keinen Taschenspiegel mitführt, hat er das verräterische Mal an seinem Kragen nicht bemerkt, wohl aber die süffisanten Blicke des einen oder anderen Passanten registriert. Er glaubt, auch neidische Blicke auf sich gerichtet zu sehen, als einer der Baumschneider mit seiner Hebebühne herabschwebt, im Schlußsprung über die Absperrung hinwegsetzt und vor Menschenkind stehen bleibt, um ihm kräftig auf die Schulter zu hauen. Die schwarzen Augen blitzen vor Herzlichkeit. „Ey, Alta, isso! Von oben, da kommt es, isso, ey Alta! Abba du bist falsche!" Die Aussprache und die volkstümliche Art zu hippen und zu hoppen lassen auf Migrationshintergrund schließen. „Wieso ich falsche?", entfährt es dem Munde Menschenkinds, was nun auch wiederum auf Migrationshintergrund schließen lassen könnte. Der Baumschneider lacht, „Machste nichts draus, Alta, bist du so gaga, kannste Freude haben Tag!".

Kaum haben die Baumschneider den Schauplatz verlassen, erscheint in Menschenkinds Blickfeld ein weibliches Wesen, noch etwas fern, aber deutlich erkennbar: Ditte! Ein Weben und Schweben, ein Heben und Beben folgt dem blauen Bande, das Ditte durch die Luft hinter sich her zieht. Mein Gott, sie ist überschwenglich, hätte Menschenkind normalerweise gedacht und sich gewappnet. So aber hängt er noch lächelnd der zwischenmenschlichen Begegnung mit seinem Mitbürger nach. Das hätte er sich doch denken können! Ditte möchte wieder einmal die ganze Welt umarmen, fällt stellvertretend um Menschenkinds Hals, will ihn herzen und küssen. Aber was sind das für Knutschflecke? Sie läßt den Umarmten los, der sich die noch leicht schmerzende Wange hält ­ „Ich sehe so was gleich, mein Lieber. Außerdem, deine Larissa hat einen schlechten Geschmack. Auf dem Kragen, hier, sieh nur hin, blutrot! Dieser Ton ist völlig out!". Menschenkind weiß nicht, wie ihm geschieht. Als Ditte nun auch noch an ihm herumschnüffelt, platzt ihm der Kragen: „Ditte verdammt, denkst du denn, daß ich nach Maiglöckchenparfüm stinke? Und außerdem ist Larissa seit zwei Monaten in Kiew oder so. Kann doch nicht wahr sein!" Für einen Augenblick scheint die Zeit stillzustehen, hier, auf dem legendären Kollwitzplatz im Herzen der Hauptstadt, an jenem Ort, von dem viele Berlinliebhaber in aller Welt in ihren Hochglanzmagazinen nur das Beste in Text und Bild erfahren haben, ja, wo Bill Clinton herumscharwenzelte und ein gewisser Ossibär unverdrossen wohnen bleibt (Bären-Problematik!), beäugt Ditte die Schramme auf Menschenkinds Wange. Gnadenlos. Er verzieht sein Gesicht. „Ist doch wohl klar eine Schramme und kein Knutschfleck!" Aber Ditte kommt auf Touren, öffnet in ihrem Oberstübchen die Spruchbeutelsammlung und zitiert irgendwie hinterhältig: „Der Einsicht schadet nur Gelehrsamkeit, zu große; besser als Brillen sieht gesunder Sinn, der bloße!" „Schramme bleibt Schramme, und Blutfleck ist kein Knutschfleck", kontert Menschenkind geistesgegenwärtig. „Brautkleid bleibt Brautkleid." Ditte muß immer das letzte Wort haben. Die beiden sehen sich tief in die Augen, es kommt, wie es muß: Eine alte Indianerin schlurft vorbei, unbemerkt auf Mokassins ...

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

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