Ausgabe 03 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

„Das kann man alles auch ohne Vaginalverkehr"

Ein Gespräch über die normalste Sache der Welt

David Goecker ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sexualmedizin der Charité.

Warum haben viele Leute Probleme, über Sexualität zu sprechen?

Viele Leute denken, daß das etwas ganz Persönliches, Intimes ist, das eigentlich keinen etwas angeht. Und daß bei allen anderen die Sexualität stimmt, nur bei einem selbst nicht. Die Vorstellung, ein Problem zu haben, das andere nicht haben, entsteht allerdings oftmals nur dadurch, daß man nicht darüber spricht. Viele Patienten denken, daß sie nicht normal sind und fragen mich: Haben Sie so etwas schon erlebt? Können Sie uns überhaupt helfen? Ich erkläre ihnen dann, daß das, was sie berichten, andere Paare auch berichten. Fragen Sie doch mal in Ihrem Freundeskreis, wie es da mit der Sexualität aussieht.

Kann man sagen, was „Sexualität" ist?

Sexualität hat verschiedene Dimensionen bzw. Funktionen. Da gibt es einmal die Lustdimension; es gibt kaum einen Bereich, wo man eine so ausgeprägte Lust empfinden kann. Dann hat Sexualität, was ganz wichtig ist, eine Bindungsfunktion. Drittens dient Sexualität der Fortpflanzung und kann den Wunsch, Kinder zu bekommen, erfüllen.

Ich frage, weil viele Leute, so ist mein Eindruck, Sexualität und Sex gleichsetzen.

Sexualität wird tatsächlich häufig mit Sex gleichgesetzt: Manche Paare, die hierherkommen, sagen, daß sie keinen Sex mehr haben. Aber wenn man nachfragt, stellt sich heraus, daß sie sich küssen, streicheln, Petting miteinander haben, sich mit der Hand oder dem Mund bis zum Orgasmus stimulieren. Sex bedeutet für viele Vaginalverkehr, das heißt der klassische Koitus. Alles andere ist für sie kein Sex oder kein richtiger Sex. Das würde ich anders sehen, weil auch das Gefühl, geborgen zu sein, Nähe, Lustgefühle und Beziehung zu erleben, zur Sexualität gehört ­ das kann man alles auch ohne Vaginalverkehr. Sexualität ist also weitaus umfassender.

Wie steht es dann z.B. mit Flirten oder Gesprächen, ist das noch Teil von Sexualität?

Flirten ist oft der erste Schritt, um mit einem Partner sexuellen Kontakt aufzunehmen und damit auch ein Teil von Sexualität. Ein Gespräch, auch per Telefon, kann natürlich sexuellen Inhalt haben und daher ebenfalls Teil von Sexualität sein. Auch andere Formen von Sexualität, wie Selbstbefriedigung, sind selbstverständlich ein Bestandteil der menschlichen Sexualität. Wichtig ist mir dabei vor allem, von der Vorstellung wegzukommen, daß Vaginalverkehr als Standard, als einzig wahre Ausprägung von Sexualität, angesehen wird, der unbedingt zu erreichen ist.

Vielleicht kann man Sexualität nicht allein auf Körperlichkeit beschränken?

Sexualität spielt sich im Kopf ab. Das Gehirn ist das größte Sexualorgan des Menschen, und Sexualität ohne Phantasien funktioniert fast gar nicht. Ansonsten bleibt es bei rein mechanischen Aktivitäten, die kaum jemand als lustvoll empfinden kann. Erst wenn Phantasien dazukommen, also Begehren des Partners, Austausch, körpersprachliche und genitale Kommunikation, dann wird das Ganze eine runde Sache. Und dazu ist der Kopf ganz wichtig.

Wie ist das bei Prostitution?

Die Männer, die zu Prostituierten gehen, wollen mehr als nur masturbiert oder befriedigt werden. Die suchen darüber hinaus den Kontakt mit einem anderen Menschen. Wenn eine Prostituierte tatsächlich auf den Freier eingehen und eine Beziehung, auch wenn sie nur fiktiv und kurz ist, aufbauen kann, wird der Freier sagen, daß das guter Sex war. Wo Freier das Gefühl haben, nur mechanisch abgefertigt zu werden, gehen sie nicht mehr hin.

Man hört immer wieder mal das Wort von der Medikalisierung von Sexualität. Um was geht es da?

Man kann Hormone geben, um die Lust zu stimulieren, oder Medikamente bei Erektionsstörungen. Das ist eine mechanistische Sichtweise von Sexualität, bei der angenommen wird, daß der Mensch nicht richtig funktioniert und man einen Schalter umlegen, also ein Medikament verabreichen muß, damit sich das wieder ändert. Medikamente können helfen, körperliche Funktionen zu unterstützen und wiederherzustellen. Die alleinige Anwendung funktioniert jedoch nur in wenigen Fällen, weil sexuelle Probleme oft im Kopf entstehen und eng mit der Qualität der Partnerschaft verbunden sind.

Problematisch ist es, wenn die Pharmaindustrie behauptet, daß es einen riesigen Bedarf an Medikamenten beispielsweise gegen Erektionsstörungen gibt. Da haben dann plötzlich 80 Prozent der 80jährigen eine Erektionsstörung. Erst wenn man genauer hinschaut, sagen die meisten 80jährigen, daß sie sich mit der abnehmenden Erektionsfähigkeit arrangiert und mit der Partnerin andere Techniken entwickelt haben, daß sie genitale Sexualität nicht mehr so wichtig finden oder keinen Leidensdruck verspüren. Für diese Männer hat die Erektionsstörung überhaupt keine Krankheitsrelevanz und muß daher nicht medikamentös behandelt werden.

Ab wann würden Sie denn von einer Störung sprechen?

Sobald der Betroffene sagt, daß er darunter leidet und eine Änderung wünscht. Wenn jemand keine Erektion bekommt und das nicht für problematisch hält, gibt es keinen Grund, ihn zu behandeln.

Wie ist das mit einem Pädophilen, der sich gut dabei fühlt? Würden Sie hier denselben Maßstab anlegen?

Wenn der Pädophile sagt, daß er keinen Leidensdruck hat, gibt es keinen Grund, ihn zu behandeln ­ es sei denn, er fügt anderen Leiden zu. Wenn er sich zwar gut fühlt und sexuelle Kontakte zu Kindern hat, dann liegt eine Fremdgefährdung vor, und das hat dann Krankheitswert. Erst wenn jemand unzufrieden ist, sich selbst oder andere gefährdet, wird es problematisch.

Welche Folgen hat die zunehmende Pornographisierung des Alltags allgemein und insbesondere auf Kinder und Jugendliche?

Auch wenn die allgemeinen Folgen umstritten sind, so entsteht doch in vielen Köpfen Leistungsdruck. Man stellt sich vor, daß das, was einem präsentiert wird, normal ist, und beginnt zu glauben, daß nur wenn man so und so aussieht, es so und so oft macht und so einen großen Penis oder großen Busen hat, daß man nur dann eine sexuell erfolgreiche und zufriedenstellende Partnerschaft führen kann. Was Jugendliche angeht, werden viele über die Medien aufgeklärt. Dort erfahren sie aber nicht alles. Daß Sexualität mehr ist als nur genitaler Kontakt, sondern auch die Übernahme von Verantwortung und Eingehen von Beziehung bedeutet, erfahren sie da natürlich nicht.

Sind die Folgen also negativ zu beurteilen?

Negativ ist eher die einseitige Aufklärung, weil die Jugendlichen nichts über Verhütung oder die soziale Dimension von Sexualität erfahren. Die Zunahme von Schwangerschaften von Jugendlichen hängt damit womöglich zusammen. Problematisch ist Pornographie immer dann, wenn Gewalt und unsafer Sex verherrlicht werden.

Interview: Benno Kirsch

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