Ausgabe 03 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Begegnungen überflüssiger Menschen in vergessenen Räumen

Ein Dokumentarfilm über den sozialen Wandel in den Neuen Bundesländern

Welcher Berliner weiß, wo Varchentin, Neulietzegöricke, Plessa oder Neukiritsch liegt? Welcher Großstädter fragt nach den Lebensbedingungen zwischen Landschaften, in denen die einzigen Irritationen für den über endlose Felder streifenden Blick aneinandergereihte Strommasten und Windenergieparks sind? Wer weiß, wie es in Weißenfels aussieht, wer kennt Bitterfeld nicht nur von der Autobahn und kann von den dortigen Lebensrealitäten berichten? Wer fragt sich im Süden Deutschlands, wie das Bild seiner Stadt aussähe, wie weit der Blick reichen würde, wenn alle verfallenen Häuser einfielen?

Die beiden Filmemacher Daniel Kunle und Holger Lauinger haben sich auf eine Reise durch die Neuen Bundesländer gemacht, um Landschaften und Dörfer ins Bild zu rücken, um aus regionaler Perspektive zu erzählen, wie die Bewohner das Schrumpfen ihrer Regionen erleben.

Im Reisegepäck hatten Kunle und Lauinger die Streitschrift „Luxus der Leere" des Architekturkritikers Wolfgang Kil. Sie erleben, was anderswo geschrieben steht. Deindustralisierung hält die Arbeitslosigkeit hoch, wer kann, zieht weg. Zugleich schrumpft und altert die Bevölkerung dramatisch. Kil schätzt die Bevölkerungszahl für die ostdeutschen Länder des Jahres 2050 auf elf Millionen und sieht „ein vollkommen anderes Land, als das uns bisher vertraute".

Wohl auch deshalb heißt das Ergebnis der Filmemacher Neuland. Der Film zeigt Begegnungen, überflüssige Menschen, vergessene Räume, liegengelassene Accessoires industrieller Lebenszeiten. Er läßt Menschen zu Wort kommen, für die Schrumpfung individuelle Verunsicherung bedeutet: Fast alle vertrauten Orte eines Lebens verschwinden; die Menschen verlieren ein Stück Lebensqualität, Selbstwertgefühl und vorstellbare Zukunft.

„Dann geh ich hier halt unter", sagt ein Jugendlicher aus Bitterfeld. Arbeit gibt es für ihn nicht, genauso wenig wie für „die Überflüssigen" aus Jüterbog. Über die Versprechen lokaler Politiker schüttelt er den Kopf. Trotz oder gerade wegen dieser desillusionierten und deprimierten Stimmen fragen Kunle und Lauinger, welche Gestaltungsmöglichkeiten sich eröffnen, wenn massenhafte und anhaltende Arbeitslosigkeit genauso wie brachfallende Räume zum Normalzustand geworden sind, was Menschen vor Ort mit ihrer Zeit machen, welche Räume sie für ihre Aktivitäten nutzen und welche neuen Raum- und Gesellschaftsformen sie dabei denken.

Der Bürgermeister aus Neulietzegöricke im Oderbruch sucht nach neuen Siedlungsbewegungen, zwei BWL-Studenten im karierten Holzfällerhemd verdienen ihr Geld mit einer Schneckenzucht in Oelsnitz im Vogtland. Sie brauchen nicht mehr als kahle Ackerböden, auf denen Unkraut sprießt. Ihre Schnekken verschicken sie zu einem Spezialitätenhändler nach Italien. Neu ist der Blick auf die kreativen Möglichkeiten nicht, aber in Neuland geht es auch um größere Fragen: Welche kollektiven Praktiken produzieren, gestalten und definieren die Räume, in denen wir leben? Und inwiefern sind Partizipation, Teilhabe und Aneignung des Raumes und seiner Ressourcen denkbar? Was wäre eigentlich, wenn man Selbstversorgung in ganzen Landstrichen organisierte oder wenn die Wertschöpfung in der Region bliebe, wie der Biomasse-Bauer aus Varchentin vorschlägt? Beträten wir dann Neuland?

Fanti Baum

„Neuland" (Deutschland 2007). Regie: Daniel Kunle und Holger Lauinger. Noch den ganzen April fast täglich im Lichtblick-Kino, Kastanienallee 77, Prenzlauer Berg.

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