Ausgabe 03 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Abbildung: Archiv Hennig.

Monte Carlo ­ Berlin 1907

29. März bis 25. April

Im Künstlerzug von Monte Carlo nach Berlin. Der Himmel bewölkt, die Luft kühl in Monte Carlo, der Himmel blau, die Luft warm in Berlin. Als die fürstlich monegassische Künstlerschar am 31. März morgens um neun im „Train spécial" das Stückchen Erde verläßt, in dem sonst Meer und Firmament in azurner Pracht sich ausbreiten, die Sonne in milder Wärme erstrahlt, heute aber der Witterung Herbheit sich fühlbar macht, da wird gar manchem bange. Die Sterne, die zwar am Gesangshimmel leuchten, im übrigen aber sehr vorsichtige und ängstliche Normalmenschen sind, hüllen ganz besonders ihre Hälse ein, denn wenn Sonne und Wärme selbst in Monte Carlo streiken, wie wird es da erst in Berlin sein!

Doch dann hält die Künstlergruppe ihren Einzug in des Deutschen Reiches Hauptstadt, und das herrlichste Frühlingswetter grüßt sie hoffnungsfroh: Zweifel und Halstücher schwinden. Die vielgepriesene Regie des Theaters von Monte Carlo erzielt auch mit der Inszenierung dieses Extrazuges einen großen Erfolg. Alles klappt. Gegen 180 Personen ziehen nach Berlin, jeder hat seinen Platz, 27 Achsen trägt der Sonderzug. Die hunderte von Kostümen und Dekorationen, die zahllosen Gepäckstücke, sie sind schon am Abend vorher aufgegeben und numeriert worden und die Künstler und Künstlerinnen in der Stunde der Abreise von aller Aufregung befreit. Sie brauchen nur in die ihnen angewiesenen Coupés zu steigen und sich sonst um nichts zu kümmern. Wie ein Feldherr, der strategisch selbst dem Unscheinbarsten Bedeutung beilegt, leitet Direktor Raul Gunsbourg diesen Reisefeldzug, und er und sein Unterfeldherr, der treffliche Regisseur Chalmin, verlassen nicht eher den Schauplatz, als bis das kleinste Paket und die größte Primadonna untergebracht sind.

Nun hinaus in die Ferne! Die Grenzen des Fürstentums Monaco sind bald erreicht, Beaulieu, Nizza, Cannes und die anderen Riviera-Orte durcheilt der Zug, und noch einmal genießt man im Fluge all die Herrlichkeiten, die die Gesunden und die Kranken, die Milliardäre und die Hochstapler anlocken. Eine trübe Erinnerung!

Der Zug hält in Toulon, dem Ort der entsetzlichen „Jena"-Katastrophe, dann geht es weiter. Marseille, Frankreichs größte Hafenstadt, Avignon, die Stadt der Päpste, deren alter Palast sichtbar wird, die Rhône im Zauber ihrer Täler und Höhen, ihrer modernen Schlösser und ihrer römischen Ruinen.

Die Nacht kommt, Städte und Landschaften huschen vorüber, die Ruhelager werden aufgesucht. Man braucht sie nicht zu verlassen, um sich an der Grenze der Zollinquisition zu unterwerfen. Leise öffnet in Belfort der deutsche Zollbeamte die Coupétür, und fragt vorsichtig: „Haben Sie nichts zu verzollen?" und verschwindet so rücksichtsvoll, wie er gekommen ist.

Acht Uhr morgens nimmt man in Frankfurt a.M. das bestellte Frühstück im Wartesaal ein, das Diner wird den 180 Personen 12 Uhr in Bebra serviert. In 15 Minuten werden fünf Gänge erledigt, namentlich der Wirsingkohl wird mit Begeisterung verzehrt. Dabei wird Mosel-, Rheinwein und Bordeaux, „Bière de Munich" und „Bière de Pilsen" verlangt.

In dem Extrazug mit 180 Sängern und Sängerinnen, mit Choristinnen und Balletteusen herrscht eine sehr angenehme, keineswegs ausgelassene Stimmung. Man macht ein kleines Jeu, man flirtet auch ein bißchen, man kauft den Damen an den Aufenthaltsstationen kleine Sträußchen, man besucht sich gegenseitig, aber man erlaubt sich keine geschmacklose Intimität, selbst nicht gegen die letzte Balletteuse, niemals wird die Grenze der Vornehmheit verlassen, alles ist auf einen harmonischen Ton anmutig gestimmt.

Raul Gunsbourg ist eine eigenartige Persönlichkeit, Rumäne von Geburt, ist er doch von französischem Wesen erfüllt. In seinem bei Paul Ollendorff-Paris erschienenen Buch „La Guerre Russo-Turque" erzählt der Marquis de Grammesde Wardes, wie Gunsbourg als vierzehnjähriger Junge im russisch-türkischen Krieg durch seine Klugheit und durch seinen Mut dazu beigetragen hat, daß die Stadt Nikopolis mit geringen Verlusten an Menschenleben von den Russen erobert wurde. Dieser junge Mensch hatte sich der Sanitätskolonne angeschlossen und, nachdem der führende Offizier gefallen war, einen Säbel aufgehoben und die Soldaten zu weiterem Kampf angespornt.

Am Morgen des 1. April, 7 Uhr Berlin, Anhalter Bahnhof, der Königliche Opernregisseur Droescher begrüßt die Gäste mit der Mitteilung, daß die ersten beiden Vorstellungen fast ausverkauft sind. Falko Hennig

Nächste Veranstaltung von Falko Hennig: 18. April, 20.30 Uhr, Kaffee Burger, die Geburt des Kinos,

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