Ausgabe 03 - 2007 berliner stadtzeitung
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AAC+, Apparaturen und Abidjan

Im April gehen die freien digitalen Radios Berlins auf Sendung

Kaum ein anderes Medium ist bisher durch die Woge der Digitalisierung so sehr in Bedrängnis geraten wie das Radio. Während Schallplatte, Kassette, Buch oder Zeitung ihre Nischen gefunden haben oder schlicht weiterexistieren und sich so gegen eine digitale Ersetzung behaupten, drohen bis 2010 allein hierzulande 300 Millionen Radioempfänger zu einem riesigen, nutzlosen Schrotthaufen zu verkommen. Denn in den kommenden Jahren soll das analoge Radio weltweit abgeschaltet werden. Dadurch wird sich die digitale Kluft von Californien bis Calcutta deutlich vertiefen.

In der gesamten EU soll es bis 2012 und weltweit 2015 keine analogen Sendemasten mehr geben ­ das wurde im letzten Sommer auf der „Regional Radiocommunication Conference 2006" in Genf so vereinbart. Wer bis dahin keinen digitalen Empfänger hat, könnte durch das plötzliche Abschalten des analogen Hörfunks ohne Radio dastehen. Selbst wer heute schon einen der wenigen je verkauften DAB-Empfänger hat, ist nicht auf der sicheren Seite, denn nur drei Jahre vor dem „Analoge Switch-Off" steht noch immer nicht fest, welches Format sich durchsetzen wird: DAB, DxB, DVB-H oder DRM (Digital Radio Mondiale); favorisiert wird von der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (kurz: DLM) derzeit das Format MPEG4 AAC+.

Aber was, wenn sich andere Staaten nicht der Meinung der DLM anschließen und der neue digitale Tausendsassa bei einer Reise ins Nachbarland verstummt? Der Verband Privater Rundfunk und Telemedien fordert daher, daß die Gerätehersteller alle Techniken in ein Endgerät einbauen, eine Art Otto-Diesel-Wasserstoff-Elektro-Hybrid-Metan-Motor – unglaublich teuer herzustellender Elektroschrott von morgen. Dabei ist noch nicht einmal klar, wie die weltweit gen Milliarden zählenden analogen Radiogeräte entsorgt werden können.

Wenigstens der Mangel an Frequenzen wird im digitalen Radio-Zeitalter kein Problem mehr darstellen. Viele Anbieter werden miteinander wettstreiten, und die Öffentlich-rechtlichen werden 50 Prozent vom Kuchen abbekommen. Bisher regional begrenzte Lieblingssender werden dann bundesweit zu empfangen sein. Eine überschaubare Zahl kommerzieller und öffentlich-rechtlicher Radios wird sich um die Quote balgen und eine unüberschaubare Zahl von Hörern dem Medium Radio den Rücken kehren ­ und lieber per UMTS oder WiMAX das Webradio ihrer Wahl hören und sich Stauwarnungen mit Hilfe von GPS auf Handy oder Navi-System schicken lassen. Selbst das Fernsehen, durch Kabeltuner und Satellitenschüssel vorbereitet und durch DVB-T-Empfangseinheiten aufgerüstet, konnte die digitale Ära relativ behutsam betreten und ist teilweise sogar schon „HD-ready". Aber für das Radio heißt es: „Friß oder stirb!"

Oder eben auch nicht. In Berlin schikken sich einige freie Radioinitiativen an, gemeinsam ein Konzept umzusetzen, das in den achtziger Jahren unter dem Namen „Micro Radio" zuerst von Tetsuo Kogawa entworfen und dann in den Neunzigern von fm.thing.net in New York mit dem Webradio kombiniert worden war. Ein Netz, ein Maschenwerk kleiner Sendeeinheiten. So auch ab dem 1. April und „erst ab 18" (Uhr) in Berlin.

Verschiedene Radioinitiativen, die bereits an temporären freien Radios wie juniradio, radioriff und reboot.fm beteiligt waren, rufen dazu auf, sich im Elektronik-Laden Mini-Sender zu besorgen, oder aber, in Workshops, selber zu bauen. Aufgrund ihrer geringen Leistung (Mikro- oder Milli-Watt) stören sie in der Regel nicht und sind auch kaum anzupeilen. Die possierlichen Apparate können dann an einen Computer angeschlossen und so mit einem Webstream verbunden werden. Mit irgendeinem Webstream, oder eben, sonntags und „erst ab 18", mit dem Webstream der freien Radios Berlins. Ein Radio der Hinterhöfe, der Nachbarschaft, des Wohngebiets.

Das Rezept ist erstaunlich einfach: Computer anschalten, Webradio aufrufen, Mini-UKW-Transmitter in die Kopfhörerbuchse und den Nachbarn Bescheid sagen. Partizipation ist ein Stichwort, das freifunk.net Vorbild und Infrastruktur zugleich. Hörer können eigene Sendungen beisteuern, in Workshops eigene Geräte löten und mit Spuckis auf die Empfangbarkeit in ihrer Umgebung hinweisen.

Und wo sind die Grenzen des Internets? Einen Tag vor der Deadline zu diesem Artikel meldete sich per Skype eine Radiostation aus Abidjan, die ihr Programm aus der Hauptstadt der Elfenbeinküste auch ins Internet streamt und sich vernetzen will. Kein Scherz! Zum 1. April könnten in Berliner Straßenschluchten die Straßen von Abidjan erklingen und umgekehrt. Der umfassende Kommunikationsapparat, auf den Brecht vor nun auch schon 75 Jahren setzte, stirbt nicht – er hatte nur eine lange Geburt.

Heiko Thierl/IG Wilms

anarchy.translocal.jp/radio/micro

minifm.radiokampagne-berlin.de

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