Ausgabe 03 - 2007 berliner stadtzeitung
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Pädagogischer Punk mit Pick-up-Truck

Gunnar Ortlepp, Prenzlauer Bergs bekanntester Streetworker, ist tot

„Gefangene Vögel singen von der Freiheit, freie Vögel fliegen davon", konnte man auf Gunnar Ortlepps schwarzem Kapuzenpullover lesen. Der Streetworker aus Prenzlauer Berg trug ihn so oft, daß man den Spruch für seine Lebensmaxime halten mußte. Viele, die ihn kannten, hat diese Aufschrift geprägt. Gekannt haben ihn nahezu alle, die der Sub- und Soziokultur Prenzlauer Bergs in den Jahren nach der Wende neues Leben einhauchten. In der ehemaligen Dimitroffstraße, dort, wo zu DDR-Zeiten die FDJ ihren Bezirkssitz hatte und das Wehrkreiskommando junge Männer für die NVA musterte, entstand 1990 das Jugend- und Kulturzentrum Dimi 81. Der neue Anlaufpunkt für engagierte Jugendliche aus Berlins Innenstadtbezirken wurde für den gelernten Tierpfleger zur wichtigen Wirkungsstätte.

Die Dimi 81 gibt es nicht mehr. Wie viele andere Kultur- und Jugendzentren in Berlin, ist sie aus dem Stadtbild verschwunden. Gunnar Ortlepp blieb. Er setzte seine Arbeit Mitte der neunziger Jahre am Schulclub der Kurt-Schwitters-Oberschule in der Greifswalder Straße fort. In Eigeninitiative hatten dort Abiturienten eine leerstehende Baracke auf ihrem Schulhof in einen selbstverwalteten Club umgebaut. Der wurde zur zweiten Heimat von Ortlepp. Dort leistete er über ein Jahrzehnt Hilfe zur Selbsthilfe, förderte Jugendliche und gab ihnen Anstöße und Chancen, die sich ihnen sonst nie eröffnet hätten. Das tat er uneigennützig und mit viel Engagement. Oft öffnete sein Name Türen. Jungen Musikern oder Filmemachern, ambitionierten Menschen mit Talent gab er die nötige Starthilfe für deren kreative Karriere.

Prenzlauer Bergs bekanntester Streetworker war Diplomat und Mediator mit viel Rückgrat, Respekt und Einfühlungsvermögen. Er weckte Vertrauen, indem er seinem Umfeld Vertrauen entgegenbrachte. Als Helfer in der Not stand er oft zwischen den Fronten und versuchte zu vermitteln. Mal schlichtete er Konflikte unter Schülern, mal war er Schiedsrichter und Schnittstelle zwischen Schülern und Lehrern, zwischen Eltern und deren Kindern. Gegenüber der Erwachsenenwelt vertrat Gunnar Ortlepp die Ansichten und Werte der Jugendlichen. Vor den Schülern mußte er die Interessen der Eltern und Lehrerschaft durchsetzen. Kein leichter Job, denn wer sich positioniert, macht sich nicht nur Freunde und gerät schnell in die Kritik.

Gunnar Ortlepp war für alle da. Sein kleines Clubbüro wurde schnell zum Anlaufpunkt für junge Menschen, die Rükkenstärkung, Mut und Trost in scheinbar ausweglosen Situationen suchten oder einfach nur etwas im eigenen Umfeld bewegen wollten. Für manche war er nicht mehr und nicht weniger als ein Sozialarbeiter, ein Pädagoge im Punk-Outfit, der leidenschaftlich gern mit seinem weißen Pick-up-Truck durch Berlins Innenstadt fuhr. Für andere war er ein Freund, ein Kumpel mit Autorität, ein Stück Familie und oft auch ein Wegbereiter und großes Vorbild. Mit ihm verschwindet ein Stück Prenzlauer Berg der Nachwendezeit, ein Berliner Original. Gunnar Ortlepp starb nach schwerer Krankheit am 1. März.

Jens Steiner

Die Trauerfeier findet am 16. April, 11 Uhr, in der Kalkscheune statt. An der Kurt-Schwitters-Oberschule, Greifswalder Str. 25, liegt ein Kondolenzbuch aus.

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