Ausgabe 02 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Steckenpferdreiterei, bis der Doktor kommt

Die große scheinschlag-Zeitschriftenumschau zum Thema

So viel Zeit, so wenig Geld. Was tun in der Hauptstadt der Erwerbslosen? Protest tut zwar not, und tut auch gut, aber irgendwann will man irgend etwas anderes machen, um die Zeit zwischen Aufstehen und Einschlafen zu vertreiben. Ich begebe mich daher zum Zentralinformationsinstitut für die unwissenschaftliche Freizeitvergeudung am Fernbahnhof Südkreuz. Das Areal birgt tausende Ideen und Vorschläge. Das Institut ist als Pressehandlung getarnt, der Chef heißt wohl Dr. Eckert. Er ist aber nicht aufzufinden, genausowenig wie seine Kollegin in der Zentralbibliothek, Dr. Lux, die in der Breiten Straße die wissenschaftlich arbeitende Bevölkerung Berlins betreut. Aber da ich mich weniger für die Atomphysik, die Zahnmedizin oder die Forstwirtschaft begeistern kann, bin ich ja hierher gekommen. Auf so einem hohen Niveau bin ich noch nicht, denn ich will ein Hobby und keinen Beruf.

Ruck zuck gehe ich an der Transportabteilung vorbei, und dann werde ich überwältigt: So viele Sachen, die man tun könnte! Aber wo anfangen? Die Sortierung verstehe ich nicht ganz. Was hier als „Hobby" gilt, hat in der Regel etwas mit Handarbeit zu tun. Stricken, Häkeln, Patchwork ­ egal, so lange Bild der Frau draufsteht. In der Zweigstelle am Alex sind die Handarbeitshefte für Männer in derselben Abteilung zu finden ­ für Heteroherren, die gleich masturbieren wollen (FHM). Noch mehr Frauenbilder also. Daneben Matador, Penthouse und, und, und. Und dann gibt es ein Lifestyle-Heft namens U-Mag, ist aber weit weg von der L-Mag, und das I/O Mag über Typographie gibt es gar nicht.

Am besten ignoriere ich die Schilder. Eine Mitarbeiterin, wahrscheinlich heißt sie Frau Dr. Dr. Kafka, ordnet die Druckerzeugnisse. Puh, Unmengen von Fernsehzeitschriften! Die Bundeszentrale für politische Bildung benutzt so ein Bild gerne, um die Pressefreiheit der Bundesrepublik in Fotoform darzustellen. In der DDR gab es bekanntlich nur FF-Dabei oder, für das Westprogramm, Die Wahrheit. Aber einfach so zu Hause in die Glotze starren? Nein! Daher vielleicht TV Sudoku aus dem Hause Bauer? Die Idee, per Videotext japanische Zahlenrätsel zu lösen, finde ich aber wenig reizvoll. Das Blatt bleibt stapelweise auf dem Tisch, ich schaue gar nicht rein, das gilt auch für die Computer- und Elektronikwerbekataloge.

Die erstaunlich breite Palette von Teddybärheften weckt meine Neugier. Bilder von gehäkelten Bären als feine Gesellschaftsdamen aus dem 19. Jahrhundert ­ schräg, aber nicht meine Welt. Bei der Vorstellung, als Teddyexperte in der Kongreßhalle aufzutreten und über die Geschichte der selbstgebastelten Freunde von Tilo, Schnute und Maxi zu erzählen („aus dem Nähkästchen plaudern", haha), wird mir leicht übel.

A propos Brechreiz: Wie wär's mit geschichtlichen Themen? Fahren eigentlich viele Nazis mit der Bahn? Die Frage wird nicht in Deutsche Geschichte ­ Europa und die Welt behandelt. Stattdessen wird von den rechten Hobbyhistorikern zur Konferenz nach Chemnitz eingeladen. Das Thema: „Wer wollte den Zweiten Weltkrieg?" (Wer „Hitler" sagt, fliegt raus!) Unter „Shoa Business" heißt es, daß „man" ­ also „die Juden" ­ „Holocaust" sagt und „Geld" meint; der iranische Staatspräsident Dr. Ahmadinedschad wird wohlwollend zum Thema zitiert. In der Deutschen Militärzeitschrift steht irgendwas über Vertreibung. Bin ich hier noch bei Dr. Eckert oder schon bei Dr. Frey? Hefte mit Soldatenspielzeug zum Nachkleben und Selberanmalen, SS-Generäle mit Schäferhunden, zu bestellen direkt aus Italien beispielsweise. Mein neues Beschäftigungsfeld habe ich immer noch nicht gefunden.

Ich wußte wirklich nicht, daß die Mittelalterszene so groß ist. Ob sie ihre Mistkübel (und damit meine ich Mist) aus dem Fenster entleeren? In Teilen Friedrichshains würde das eh' nicht auffallen. In pax et gaudium heißt die Titelstory „Landesknechte heute". Dazu gibt es Wikingerangeln und Schnittmuster, um Kleidungsstücke aus der damaligen Zeit nachmachen zu können. Im Konkurrenzblatt Karfunkel auch.

Ich könnte mir auch Millionaire kaufen. Das wäre ein Hobby, das sich lohnen könnte. Die „erotischen" Stücke vom Bruno Gmünder ignoriere ich. Quatsch, ich blättere rein – sind aber lächerlich. Dr. Norden mit knackigen Typen, wo es „wirklich", aber sehr platt zur Sache geht. Andere Krankheiten. Ich muß raus. Also: Falls Sie, lieber Leser, einen Typen sehen, auf dem Weg vom Kreuzberger Nähcafé, mit Wikingerbart, in einer „Thorsberghose", mit Stofftieren unter dem Arm, der sich über seinen Sparkontostand prächtig freut, heißt es, daß ich viele neue Steckenpferde nicht nur entdeckt habe, sondern ihnen auch nachgehe. Schickt mich in diesem Fall bitte schnellstmöglich zum Arzt. Aber nicht zu Dr. Eckert. Zum Thema Stekkenpferd: Hätte ich mir einfach nur eine Wendy gekauft!

„Dr." Matthew Heaney

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 02 - 2007 © scheinschlag 2007