Ausgabe 02 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

„Das sind nur Dokumente"

Dem Fotografen Eugène Atget zum 150. Geburtstag

Obwohl heutzutage keine Geschichte der Fotografie ohne seinen Namen auskommt, galt er lange Zeit als geheimnisvolle Randexistenz, der, wie Walter Benjamin 1930 formuliert, „mit seinen Bildern zumeist in den Ateliers herumzog, sie für wenige Groschen verschleuderte, oft nur für den Preis einer dieser Ansichtskarten, wie sie um 1900 herum die Städtebilder so schön zeigten, in blaue Nacht getaucht, mit retuschiertem Mond. Er hat den Pol höchster Meisterschaft erreicht; aber in der verbissenen Bescheidenheit eines großen Könners, der immer im Schatten lebt, hat er es unterlassen, seine Fahne dort aufzupflanzen." Benjamin sieht in Eugène Atget den leidenschaftlichen Künstler, der im Verborgenen arbeitet und Großes leistet, einen „Busoni der Fotografie, und der ist Atget. Beide waren Virtuosen, zugleich aber Vorläufer. Das beispiellose Aufgehen in der Sache, verbunden mit der höchsten Präzision, ist ihnen gemeinsam."

Diese Einschätzung stimmt nicht ganz. Atget selbst sieht sich vor allem als Handwerker, der Gebrauchsware herstellt; er hinterläßt mehr als 8000 Aufnahmen aus 30 Jahren aktiver Arbeit; er ist ein Geschäftsmann, der seine Fotos an Künstler und Institutionen im In- und Ausland verkauft. Seit 1902 trägt seine Visitenkarte den Aufdruck „E. Atget, auteur éditeur d'un 'Receuil photographique du vieux Paris' (Monuments et aspects)". Er sieht sich als Dokumentaristen, der sich zur Aufgabe gemacht hat, Paris als Stadtlandschaft fotografisch zu dokumentieren. Aus seinem akribischen Dokumentarismus heraus wird er – wohl unbeabsichtigt – zum Ethnographen einer Stadt, die von den Merkmalen der Vergangenheit geprägt und durchdrungen ist.

Geboren wird Jean Eugène Auguste Atget am 12. Februar 1857 in Libourne, einer kleinen Stadt in der Nähe von Bordeaux. Früh verwaist, wächst er bei den Großeltern mütterlicherseits auf. Nachdem er die Schule verlassen hat, versucht er sich erfolglos als Schauspieler und Maler. Durch seine Bekanntschaft mit Pariser Künstlern kommt er 1885 auf die Idee, einen Handel mit Bildvorlagen für Gemälde zu eröffnen, nach denen große Nachfrage besteht. Er kauft sich eine Kamera, fotografiert Landschaften und macht Naturstudien. Sofort hat er damit kommerziellen Erfolg. Er verkauft seine Fotos unter anderem an die Maler Maurice Utrillo, Georges Braque, Edouard Detaille, Andrè Dunoyer de Segonzac, Luc-Olivier Merson oder Hippolyte Destailleur.

1899 nimmt Atget Kontakt mit der Bibliothèque Historique de la Ville de Paris auf, die ihm 100 Abzüge von Straßenansichten abkauft. Zielstrebig schreibt er nun Institutionen im In- und Ausland an, um ihnen Portfolios seiner Paris-Bilder anzubieten. Verkäufe nach England und Deutschland geben ihm die nötige finanzielle Freiheit, sich ganz und gar seiner Aufgabe zu widmen. Er lebt in Parallelwelten: Während er die entlegensten Winkel von Paris fotografiert und mit den einfachen Menschen verkehrt, verkauft er diese Bilder gleichzeitig an Kunstschaffende und hält an der Universität Vorträge über Fotografie.

Frühmorgens, noch vor Sonnenaufgang, wuchtet er seine mehr als 20 Kilo schwere Glasplatten-Holzkamera auf die Schulter und zieht los. Das frühe, noch weiche und diffuse Morgenlicht, das in den engen Gassen keine Schatten wirft, reizt ihn besonders. Zu so früher Stunde sind die Straßen der Metropole nur wenig belebt. „Merkwürdigerweise sind aber fast alle diese Bilder leer. Leer die Porte d'Arcueil an den fortifs, leer die Prunktreppen, leer die Höfe, leer die Caféhausterrassen, leer, wie es sich gehört, die Place du Tertre. Sie sind nicht einsam, sondern stimmungslos; die Stadt auf diesen Bildern ist ausgeräumt wie eine Wohnung, die noch keinen neuen Mieter gefunden hat," beschreibt Walter Benjamin das Hauptmerkmal von Eugène Atgets Fotografien.

Diese Abwesenheit von Menschen liegt sicher in der Absicht von Atget, ist aber auch technisch bedingt: Die lichtschwachen Optiken und das diffuse Morgenlicht verlangen nach langen Belichtungszeiten von 60 Sekunden oder mehr. Deshalb wartet der Fotograf, bis sich vor seiner Kamera nichts mehr bewegt. Manchmal gehen Passanten durch das Bild, während das Glasnegativ belichtet wird. Ihre geisterhafte Silhouetten, manche mit Hut und Schnurrbart, brennen sich in die Bilder ein.

Am Ende des 19. Jahrhunderts ziehen dutzende Fotografen durch die Straßen der Metropole, um pittoreske Bilder herzustellen, die sich als Ansichtskarten verkaufen lassen. Allein Atget arbeitet systematisch daran, ein Panorama dieser Stadt entstehen zu lassen, wie es zur Zeit der Revolution von 1789 ausgesehen haben mag: Die Straßen und Gassen sind kaum breit genug für eine Postkutsche; die Häuser übersät mit großflächigen Hinweisen wie „Bazar Universel", „Chocolat Vinay", „Absinthe Joanne", „Ciments chaux et platre", „Poterie de Gres", „Illuminations Drapeux", „Caoutchouc Manufacture" und „Au Sphinx Droguerie Pharmacie Herboristerie". Atgets Thema ist das Überdauern dieser Vergangenheit, wie sie in den Pferdewagen, Handkarren, Bretterbuden, Schleppkähnen, Wandzeitungen, den engen Hofeinfahrten, winzigen Eckhotels, Milchwagen und grotesk aufgestockten Häuserensembles zu sehen ist. Er vermeidet die Zeichen der Moderne und der technischen Entwicklung wie Elektrizität, Taxis, Bus- oder Eisenbahnlinien. In seinen Bildern sehen wir die Metropole, als sei sie aus vielen Dörfern oder Häusergruppen zusammengesetzt, zwischen denen sich überdimensionale Kirchen, ausufernde Parks oder monumentale Gartenanlagen ausbreiten. „Als erster desinfiziert er die stickige Atmosphäre, die die konventionelle Porträtfotografie der Verfallsepoche verbreitet hat," beschreibt Walter Benjamin die Wirkungsweise der Bilder. „Er reinigt diese Atmosphäre, ja bereinigt sie: er leitet die Befreiung des Objekts von der Aura ein, die das unbezweifelbarste Verdienst der jüngsten Fotografenschule ist."

Atget betreibt eine Fotomanufaktur für Gebrauchsbilder. Seine Systematik, mit der er die métiers von Paris ablichtet, ist die eines Geschäftsmannes, der nie genau weiß, welche Bilder sich demnächst gut verkaufen. Er beginnt mit vom Abriß bedrohten historischen Altbauvierteln und arbeitet sich von Arrondissement zu Arrondissement weiter. Ganz nüchtern zeigt er den Stadtraum an sich. Indem er, wie Walter Benjamin registriert, nicht vorbeigeht „an einer langen Reihe von Stiefelleisten, nicht an den Pariser Höfen, vor denen von abends bis morgens die Handwagen in Reih und Glied stehen; nicht vorbei an den abgegessenen Tischen und den unaufgeräumten Waschgeschirren, wie sie zu gleicher Zeit zu Hunderttausenden da sind; nicht am Bordell rue... no 5, dessen Fünf an vier verschiedenen Stellen an der Fassade riesengroß erscheint", wird er zum Dokumentaristen des Biotops Stadt. Durch die Systematik seiner Bildherstellung wird er zum Ethnographen, der Daten aufzeichnet und sammelt. Vermutlich ist ihm dies gar nicht bewußt. „Er war ein sehr einfacher Mann, fast so naiv wie ein Sonntagsmaler," beschreibt ihn der surrealistische Künstler Man Ray Ende der fünfziger Jahre.

Der erste Weltkrieg bedeutet einen tiefen Einschnitt im Leben von Eugène Atget. Sein Stiefsohn wird zum Militär eingezogen und stirbt auf dem Schlachtfeld. Paris wird von deutschen Flugzeugen bombardiert. Traumatisiert zieht sich Atget aus der Öffentlichkeit zurück, ordnet seine Negative und lebt zurückgezogen vom Fotografenmilieu. Anfang der zwanziger Jahre verkauft er einen Großteil seines Archivs an die Nationalbibliothek. Gleichzeitig zieht er wieder mit der altertümlichen Holzkamera mit Messinglinse und Deckel ­ es gibt längst praktischere, handlichere, kleinere Fotoapparate ­ auf dem Rücken durch die mittlerweile belebten und motorisierten Straßen von Paris. Aber nun gibt es niemanden mehr, dem er seine Aufnahmen verkaufen kann.

Die Surrealisten sorgen dafür, daß Atget neu wahr genommen wird. 1925 wird Man Ray auf seinen Ateliernachbarn aufmerksam. Dessen Türschild „Documents pour artists" hat die Neugier des Amerikaners geweckt, aber er weiß nichts über diesen alten Herrn, der, wie er sagt, „Abzüge auf einem kleinen Raster macht und diese auf seinem Fenstersims im Hinterhof der Sonne aussetzt. Man konnte zu ihm hinauffahren und einen Abzug für fünf Francs, oder sogar 25 Cents kaufen." Man Ray braucht nicht lange, um seinen Freund André Breton davon zu überzeugen, Atgets Bilder in dessen Zeitschrift La Révolution surréaliste zu veröffentlichen. Das Traumhafte, Irreale in diesen Bildern spricht die skandalträchtige Künstlergruppe an.

Für Benjamin ist die Begeisterung der Surrealisten für den Eigenbrötler nur verständlich: „In der Tat: Atgets Pariser Fotos sind die Vorläufer der surrealistischen Fotografie; Vortrupps der einzigen wirklich breiten Kolonne, die der Surrealismus hat in Bewegung setzen können. Wenn Bifur oder Variété, Zeitschriften der Avantgarde, unter der Beschriftung 'Westminster', 'Lille', 'Antwerpen' oder 'Breslau' nur Details bringen, einmal ein Stück von einer Balustrade, dann einen kahlen Wipfel, dessen Äste vielfältig eine Gaslaterne überschneiden, ein andermal eine Brandmauer oder einen Kandelaber mit einem Rettungsring, auf dem der Name der Stadt steht, so sind das nichts als literarische Pointierungen von Motiven, die Atget entdeckte. Er suchte das Verschollene und Verschlagene, und so wenden auch solche Bilder sich gegen den exotischen, prunkenden, romantischen Klang der Stadtnamen; sie saugen die Aura aus der Wirklichkeit wie Wasser aus einem sinkenden Schiff."

Aber Atget ist es nicht recht, daß seine Fotos in einen Kunstzusammenhang, gar noch mit einem Essay von Robert Desnos versehen, veröffentlicht werden. Nur unter einer Bedingung gibt er seine Einwilligung: „Setzen Sie meinen Namen nicht darunter", erklärt er Man Ray, „das sind nur Dokumente". Am 4. August 1927 ist Atget in Paris gestorben.

Michael Freerix

Zu dumm, daß wir nicht auf ein Buch oder eine Ausstellung in Berlin (die lief eben aus) verweisen können, immerhin, wer gerade in Köln ist: Dort ist noch bis zum 24. März die Ausstellung „Das Paris der Jahrhundertwende" mit Fotos von Eugène Atget zu sehen. Galerie Karsten Greve, Drususgasse 1-5.

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