Ausgabe 02 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

In der Lehre beim Flaschensammler

Ein Erfahrungsbericht aus dem neuen Prekariat

Die Mülleimer sind ihre Erwerbsquelle. Das Objekt ihrer Begierde: Pfandflaschen. Nur selten sieht man ihnen an, daß sie von Weggeworfenem leben. Ihre Kleidung ist korrekt, sie wirken gepflegt. Gehören sie etwa zum „abgehängten Prekariat"? Für mich sind sie die Flaschler. Ich fragte mich, was es für einen Menschen bedeutet, in der Öffentlichkeit in Mülleimern zu wühlen. Und was verdient ein Flaschensammler? Neugierig wie ich war, entschloß ich mich zu einem Experiment und wurde für zwei Wochen selber „Flaschler".

In dieser Zeit lernte ich Lothar kennen. Lothar ist 49 Jahre alt und sammelt bereits seit zwei Jahren Pfandflaschen. Lothars Lebensweg ist der Klassiker unter den Flaschlern: Job weg, Überschuldung, Krankheit und „mit dem letzten Schliff vom JobCenter" poliert, wie er selber sagt.

„Es dauerte etwa zwei Monate, bis ich wußte, wo ich was finde, wo ich welche Flaschen abgeben kann und wie die Spielregeln sind", sagt Lothar. Bei ihm mache ich so eine Art Lehre und lerne „Flaschensammeln". Getränke-Hoffmann nimmt 0,3 Liter-Cola-Flaschen, jedoch nicht die Sprite-Flaschen. Die wiederum nimmt eine nette Mitarbeiterin im Galeria Kaufhof, obwohl sie es nicht müßte. Einige Ladenbesitzer versuchen, ihren Abgabeautomat bei Vielsammlern unbeliebt zu machen und erschweren eine schnelle Flaschenabgabe, indem sie die Automaten in größeren Abständen leeren. So kommt es zu Wartestaus oder zeitlichen Verzögerungen und macht die Abgabe größerer Mengen zu einer Geduldsprobe.

Um Flaschen zu sammeln, braucht man einen zirka 60 cm langen Stock zum Wühlen im Mülleimer und einen kleinen, mit dem man zerknüllte Dosen von innen begradigen kann, sonst kann der Automat die Pfandmarke nicht lesen und nimmt die Dose nicht an. Dazu eine Taschenlampe mit geringem Batterieverbrauch und einen Einkaufswagen für die Flaschen. Eine Tüte hinten an einem Müllauto weist darauf hin, daß die Müllmänner selber Pfandflaschen sammeln und es unangenehm werden könnte, wenn man ihnen in die Quere kommt.

Es gibt den Aggroflaschler, den Assiflaschler, den Alkiflaschler, den Spaßflaschler und den Kampfflaschler.

Es gibt Ladenbesitzer, die sich weigern, die Unmengen an Flaschen anzunehmen, und solche, die es gerne tun. Man sollte nur nicht zwischen betrunkenen Jugendlichen sammeln (Gefahr von Tritten in den Hintern) und nicht in Mülleimer in der Nähe einschlägiger Drogenszenen greifen. Das Flaschensammelverbot auf dem Hauptbahnhof beachten!

Am lukrativsten sind 0,3 Liter-PET-Flaschen wie Cola oder Fanta für 25 Cent. Gefolgt von Dosen für ebenfalls 25 Cent und Cola-Glasflaschen à 0,3 Liter zu 15 Cent. Das Schlußlicht sind die Bier-Glasflaschen zu 8 Cent. Sind acht Tüten voll, hat man etwa 30 Euro drin ­ das reicht. Nicht länger als vier Stunden am Tag sammeln ­ sonst droht Gefahr von Depression!

Meinen ersten großen Einsatz habe ich auf einem Stadtfest. Ich bin hochmotiviert. Mein Ziel: 50 Euro am Abend. Ich will den Rekord brechen. Um auf diese Summe zu kommen, müßte ich mindestens 200 Flaschen für 25 Cent das Stück sammeln. Unmöglich? Es reichen auch 625 Bier-Glasflaschen oder 200mal 0,3 Liter-PET-Flaschen oder 1666 Weinflaschen für je 3 Cent oder 333 Joghurtgläser für je 15 Cent. Nach vier Stunden komme ich auf 46 Flaschen für je 25 Cent das Stück. Macht genau 11,50 Euro. Was habe ich bloß falsch gemacht? Ich bin mir sicher, ich war zu zaghaft. Aber irgendwie konnte ich nicht über meinen Schatten springen und mich zwischen den Leuten durchzwängen, um die vor ihnen auf dem Boden liegenden Flaschen aufzuheben. Oft wurde ich auch von dem jeweiligen Besitzer deutlich auf dessen Eigentumsrechte hingewiesen, was mir jedes Mal die Schamesröte ins Gesicht trieb.

Abends im Bett gehen mir die freundlichen Blicke der Menschen nicht aus dem Kopf. Hin und wieder überließ mir jemand die eigene Flasche. Lothar meint, irgendwann siegt die Not über die Scham, die man dabei empfindet, und er schwärmt von der WM. „Da lag das Geld nur so auf der Straße!" Zum Schluß möchte ich seine Herangehensweise perfektionieren und recherchiere für ihn im Internet Stadtfeste. Nebenbei finde ich heraus, daß der Kaufpreis einer Pfandflasche in einer Flaschenfabrik bei 3 Cent liegt. Ich bin versucht, einen Vertrag in Höhe von 15000 Euro abzuschließen, um 500000 leere Bierflaschen zu kaufen. Leider habe ich von meiner Bank eine Absage für den dazu benötigten Kredit bekommen. Würde ich 500000 leere Pfandflaschen bei Edeka um die Ecke abgeben, müßten sie mir eine Summe von 125000 Euro auszahlen – ein Gewinn von 110000 Euro. Sehr verlockend.

Waldemar Olesch

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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