Ausgabe 02 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Hosen auftragen im Wedding

Aber wo sind die Verbrecher geblieben?

„Kiezschreiberin bist du – weil das eine so berüchtigte Gegend sein soll?" fragt mich Roland, ein guter Freund, der zu Besuch gekommen ist. „Und wo sind die Verbrecher?" Wir gehen gemächlich über die Soldiner Straße, die Drontheimer, die Koloniestraße. Es ist ein lauer, fast frühlingshafter Tag. Männer und Frauen sitzen in der Sonne – vor Vereinslokalen, die so träge wirken, als sei die Zeit vor ihren Türschwellen stehengeblieben. Vor Dönerläden, deren Werbung mit verblichenen, filzstiftbeschrifteten Preisschildchen ausgezeichnet ist. Hin und wieder braust ein Auto vorbei. Dann kehrt wieder Ruhe ein. Ein kleiner Junge stoppt höflich seinen Fußball, als eine ältere verschleierte Dame vorübergeht. „Dies ist so verrucht wie Bad Homburg bei Frankfurt am Main, wo ich groß geworden bin", sagt Roland zu mir. Er hat mich immer besucht. Überall, wo ich mein Quartier aufgeschlagen hatte. In Mitte, Kreuzberg, Friedrichshain, Hohenschönhausen, Lichtenberg. Wir stadtwandern gemeinsam, wann immer er in die Stadt kommt. Von Café zu Café, von Eckkneipe zu Eckkneipe oder von Friedhof zu Friedhof.

Diesmal sind wir ziellos unterwegs. Schlendern. Den Kiez erkunden, in dem ich in der nächsten Zeit leben und schreiben soll. „Fällt dir nichts auf? Gar nichts?" frage ich ihn. Fast bittend. „Doch, mir fällt auf, daß der Döner einen Euro kostet, die Leute nett sind und mir niemand abschätzige Blicke zuwirft." Roland sieht heute unmöglich aus. Er trägt helle Baumwollhosen, die einer eigentümlichen Mode folgen. Kaum zu sagen, ob sie im letzten Jahr, im vorletzten oder überhaupt nie modern gewesen sind. Sie sind ein Geschenk seiner Mutter, das er ihr nicht ausreden konnte. Und irgendwann, erklärt er mir, muß man sie ja nutzen. Schließlich haben sie Geld gekostet. Mitunter denke ich, daß auch in uns noch die Nachkriegsmentalität unserer Eltern steckt ­ auch wenn H&M und die Lifestylewelt noch so sehr dagegen anballern. „Auftragen" nannte das meine Mutter, wenn ich die geerbten Schlaghosen meines Bruders so lange anziehen sollte, bis ein Loch im Stoff war. Ich haßte „auftragen" und ließ mich mitunter absichtlich auf den Asphalt fallen, damit die Hose am Knie aufriß.

Wenn ich heute so eine schlimme, alte Hose in der Hand halte, im Begriff, sie in den Altkleidersack zu stecken, schlummern zwei Seelen in meiner Brust. Die eine sagt: Wirf sie weg. Du magst sie doch nicht mehr anziehen. Die andere sagt: In diesem Kleidungsstück sind wertvolle Rohstoffe verwebt. Und außerdem hast du einmal gutes Geld dafür bezahlt. Am Ende trage ich die Hosen im Haus ­ und hoffe, daß niemand auf die Idee kommt, spontan vorbeizuschneien.

Roland ist cooler als ich. Er trägt seine schlimmen Hosen auf der Straße „auf". Er würde sie jederzeit auch auf dem Ku'damm tragen. Er würde die scheelen Blicke der Leute registrieren ­ und sich einen Kehricht darum scheren. Noch immer weiß ich nicht, ob ich diese Haltung bewundern soll ­ oder ob es Roland doch eher am Sinn für Lifestyle fehlt.

Wir setzen uns auf eine Bank nahe einem kleinen Spielplatz, um ein paar Weinblätter zu essen, die ich unterwegs gekauft habe. Neben uns sitzen drei solariumbraune Herren und drei sonnenverwöhntaussehende Frauen. Einige Kinder toben. Obwohl der Baum noch kahl ist, wird jeder Sonnenstrahl genutzt, um draußen zu sein. Mamas und Papas sind hier gemeinsam auf Spielplätzen anzutreffen. Gezählte Verbrechen in den letzten zwei Stunden: vier. Dreimal unbefugtes Betreten von Rasenflächen. Einmal Überqueren einer Fahrbahn bei Rot. Wir sind entspannt, ein wenig gelangweilt vielleicht. Angenehm gelangweilt. Mehr nicht. „Man müßte Sonnenblumenkerne haben", sagt Roland, „die man mit den Zähnen knacken und die Hülsen auf die Straße spucken kann". Er hat recht. Das wäre genau das richtige für so einen wunderbar angenehm langweiligen Tag. Es tut mir leid, daß ich ihm nicht mehr bieten konnte, hinsichtlich Ruch und dem Gefühl von Gefahr. Aber Roland sagt: „Die sind schon in Ordnung, die Leute hier. Ich glaube, was man ihnen in Wirklichkeit übelnimmt, ist, daß sie ihre Hosen 'auftragen'. So wie ich." Wir brechen auf. Einen Laden suchen, der Sonnenblumenkerne verkauft.

Tina Veihelmann

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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