Ausgabe 02 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Geschichten von beiden Seiten des Flusses

Ein Buch über zwei Dörfer an der Oder, das man gern zur Hand nimmt

Das Buch ist originell gemacht: Es läßt sich von zwei Seiten aus lesen. Je nachdem, wie es vor einem liegt, heißt es Aurith oder Urad; das eine ist der deutsche Name für ein Dorf links der Oder, das andere der polnische für das rechts von ihr. Beide Dörfer gehörten einmal zusammen, bis nach dem Krieg der Fluß zur Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen wurde und damit beide Dorfhälften zu einsamen Vorposten in the middle of nowhere auf den beiden Seiten des Flusses. Die Autorin Tina Veihelmann hat etwas ganz Unspektakuläres getan: Sie hat die Menschen der beiden Dörfer besucht und aufgeschrieben, was sie erzählen. In Aurith kommen die Bewohner des deutschen Dorfs zu Wort, in Urad die des polnischen. Und in die jeweils andere Sprache übersetzt sind die Texte auch.

Da ist aus Aurith z.B. die Geschichte von Karl Starkbauer, der nach dem Krieg als Flüchtling aus Schlesien nach Aurith kam und als „Neusiedler" zunächst vier Jahre in einer Erdhütte hausen mußte, bis er sich ein richtiges Haus bauen konnte. Oder die von Martina Novak, die sommers in der LPG arbeitete und winters mit anderen Frauen Gänsefedern rupfte, sang, erzählte und trank, während die Männer Holz hackten. Oder die von Hermann Böttcher, der die Genehmigung hatte, nachts zu angeln, und deshalb genau wußte, wer so alles die Oder überquerte: zuerst DDR-Flüchtlinge, die zur bundesdeutschen Botschaft nach Warschau wollten, dann polnische Jugendliche, die im Westen nächtens ein paar Hühner mitgehen ließen, und schließlich die afghanischen Frauen mit Kindern, denen man eigentlich einen heißen Tee anbieten sollte, die man aber dann doch an den BGS verpfeift. Oder die von Thomas Jurke, der unglaublich viel Kraft hat und etwas aufbauen will, dem aber Erfolg dennoch nicht beschieden ist.

Andere, aber doch ähnliche Geschichten gibt es aus Urad zu berichten. Z.B. die von Karolina Kluziak, die 1948 ihr Holzhaus in den Karpaten verließ, um in Urad ein Haus aus Stein zu bekommen, das sie aber doch nicht vorfand, weil mit ihm Warschau wieder aufgebaut werden mußte. Oder die von Kazimiera Kapica, die in Urad geboren wurde, aber keine Lust auf die Landwirtschaft hatte, sondern lieber Kulturveranstaltungen organisierte. Oder die von W[adys[aw Wydmuch, der deutsch kann und deshalb immer die Besucher aus Deutschland betreute, die über die „Friedensgrenze" kamen, um ihre Heimat zu besuchen, und dafür von den Dorfbewohnern als „Hitler" verspottet wurde. Oder die von Robert und seinen Kumpels, die nach 1989 mit dem Schlauchboot über die Oder fuhren, um Büstenhalter an die Deutschen zu verkaufen oder mal ein paar Hühner mitgehen zu lassen. Oder die von Jolanta Kapica, die in Berlin als Dienstmädchen ausgebeutet wurde, dann lieber einen Marktstand in S[ubice betrieb, wo sie Roland aus Frankfurt kennenlernte und schließlich heiratete.

Aurith-Urad wurde von Steffen Schuhmann schön gestaltet: Den Umschlag ziert Oderwasser, und auch in der Mitte des Buchs, da, wo sich die deutschen und polnischen Geschichten treffen, hat er Wasserbilder plaziert. Dazwischen Schwarzweiß-Porträts von Dorfbewohnern und farbige, sehr geschickt collagierte Ansichten des Dorfs und seiner Umgebung. Die Bilder gewähren tiefe Einblicke in das Leben in der Provinz und zeugen von der Sympathie, die Autorin und Fotograf den Bewohnern entgegenbringen, ohne je etwas zu verklären. Zusammen mit der sehr gelungenen typographischen Gestaltung und der guten Qualität des Papiers ergibt das ein Buch, das man gerne zur Hand nimmt.

Benno Kirsch

Tina Veihelmann/Steffen Schuhmann: Aurith-Urad. Zwei Dörfer an der Oder. Deutsches Kulturforum Östliches Europa, Potsdam 2006. 9,80 Euro.

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