Ausgabe 02 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Tippel-Ditte

Heute ist Sonntag, da will die Ditte tippeln, und Menschenkind will ausschlafen. „Wie viele Sehenswürdigkeiten wären es würdig, von uns noch gesehen zu werden! Menschenkind, öffne doch mal deine Augen für einen Moment. Sieh mal, der Naturpark Schöneberger Südgelände!"

Sie wedelt mit einem Flyer um Menschenkinds schlafendes Haupt, vorlesend:

„Der Naturpark Schöneberger Südgelände war einst Teil des Rangierbahnhofs Tempelhof."

Das heizt aber jetzt die Spannung an! Menschenkind öffnet ein Auge.

„Ja, ja, ja, der Flughafen Tempelhof, der künftig ehemalige Flughafen, dessen potentielle Nachnutzer schon Schlange stehen, man könnte ein wunderbares innerstädtisches Naturparkgelände für Hunde-Auslauf und Menschen-Auflauf schaffen. Oder? Wie Meister Mehdorn meint, den künftig einst ehemaligen Flughafen einfach revitalisieren? Und ein groß-europäisches Logistikzentrum mit permanentem Perma Nachtflugverkehr schaffen."

Im Halbschlaf versteht er natürlich immer nur Bahnhof, was wohl in seinem Fall Flughafen heißt. Ditte greift schließlich nach jedem kommunikativen Strohhalm, das ist ja wohl eines ihrer Lieblingsthemen. (Aber was ist keines ihrer Lieblingsthemen?)

„Warum denaturiert ER eigentlich nicht das Schöneberger Südgelände, was ja mal ein Rangierbahnhof war, der größte deutsche Rangierbahnhof, damals, als wir noch in Holzpantinen gingen. Hör mal, was hier steht: Auf seiner Bahnfläche hat sich in nur knapp 50 Jahren eine einmalige Naturoase mitten in der Großstadt entwickelt."

Ritschratsch, hochrunter, dabei Augenrollen und Hüftkreisen ­ Menschenkind putzt sich schon mal die Zähne, schlüpft freihändig in seine Schnürstiefel, schlappt mit hängender Stiefelzunge zur Küchentür, zielt mit der Zahnbürste auf die Spüle, bläst die Wangen auf und spuckt, sich schüttelnd, aus. „Weißt du, was Murks ist, liebe Ditte?" Die hat sich im Schlagschatten des Matadors längst gestiefelt und gespornt, den Schlüsselkontrollgriff gemacht und just in dem Moment die Schultern hochgezogen, hoffend, daß er mit dieser Frage nicht auf Unebenheiten in ihrem Haushalt schielt.

„M.U.R.K.S. bedeutet: Methodische Umwälzung rottender Kompost-Sortierung! Das ist mir eben bei notwendig geschlossener Schnauze eingefallen. Meinem Hirn bemächtigt sich nämlich gern eine gewisse Morgensteifigkeit, die andere in ihren Gliedmaßen bemerken, nicht wahr, meine kleine Tippel-Ditte?" Diese säuert sichtlich ein. „Mach endlich deine Schnürsenkel zu und komm!" Menschenkind wittert Morgenlust. So kriegt er sie immer.

„Handelt es sich beim Absehen von deiner Morgensteifigkeit etwa um Realitätsverweigerung? Müßten wir da nicht schon den Rückzugskonjunktiv benutzen, Bebe?"

In der S-Bahn schweigen sie. Die Sonne scheint durch die zerkratzten Scheiben. Priesterweg die Treppe runter, gleichermaßen ergriffen bleiben sie stehen beim Anblick der leuchtend ockergelben Wand, hinter der das Südgelände lauert. Es rappeln die Sprayer mit ihren Kannen, den Dosen, kreuzen leichten Turnschuhs den Pfad und schnüren durch das Unterholz. Ditte legt ihren Kopf in den Nacken. Es duftet nach Graffiti.

„Wie herrlich leuchtet mir die NATUR?" deklamiert Menschenkind.

„Kaufst du mir ein Eis?" Ditte macht diese unwiderstehlichen Hundeaugen.

„Blauflügelige Ödlandschrecke, Flokkenblume, Sichelmöhre!" steigert der Angebaggerte sein Wohlbehagen. „Na, zum Glück hat ja das Café noch geschlossen!" So treten sie in den eisernen Garten ein, den Odious-Garten, den pflegeleichte immergrüne Stahlzypressen zieren, wo der Rost persönlich gefeiert wird an all den eisernen Relikten einer Rangierbahnhofsvergangenheit, Saugventile, Druckscheiben, Hubspindeln für Luft- und Speisepumpen, Schrauben und Muttern in Beeten versammelt, auf Installationen wieder zusammengeführt, die an allen Ecken und Enden der zauberischen Versammlung entweder fehlen oder nicht.

„Hier ist die Torte, die du nie vergißt", macht Ditte auf eine Torte aus Stahlblech aufmerksam.

„Na, dann hau mal rein! Besser als ins Gras gebissen. Guten Appetit!"

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

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