Immer dasselbe Ergebnis: Die Lage ist schlecht
Es hätte eine gute Nachricht sein können, die das heute journal
des ZDF vor kurzem vermeldete. Dem Bericht zufolge ging die Zahl der Straftaten
in Berlin von 2002 bis 2005 um 12,8 Prozent zurück. Desgleichen die
Zahl der jugendlichen „Intensivtäter", die von 3000 auf 500 gesunken
sei. Doch da diese Nachrichten allein offenbar zuviel der frohen Botschaft
gewesen wären, wurden sie mit der suggestiven Anmoderation sogleich
entkräftet: „Ist Deutschland wirklich so sicher, wie kürzlich
im Kriminalitätsbericht verkündet?" Wer so fragt, will natürlich
eine ganz bestimmte Antwort hören: „Nein, sagen Polizei und Staatsanwälte.
In Berlin könne von einem Rückgang der Kriminalität keine
Rede sein."
Denn, so die interessante Erläuterung, der Rückgang der registrierten
Straftaten sei nur dadurch zu erklären, daß auch die Zahl der
Polizisten im selben Zeitraum um 6,6 Prozent gesunken sei. Zusätzlich
seien im Jahr 2006 viele Polizisten zur Sicherung der Fußball-WM
abkommandiert worden, hätten danach ihren Urlaub abgefeiert ? und
die Staatsanwälte gleichsam arbeitslos gemacht. Auch der Rückgang
der Zahl der jugendlichen Intensivtäter von 3000 im Jahr 2005 auf
500 beruhe lediglich auf einer „Frontbegradigung": Man habe einfach die
Kriterien geändert, nach denen man Jugendliche als Intensivtäter
bezeichne; von zwei bis drei Gewalttaten auf nunmehr zehn pro Jugendlichem.
Hat Berlin zu wenig Polizei? Mit Sicherheit nicht. Im Jahre 2004 kamen
auf einen Polizeibeamten 188 Einwohner, in Hamburg 212. Und vielleicht
wird ja umgekehrt ein Schuh daraus: Wenn man sich das Zahlenmaterial ansieht,
könnte eine logische Schlußfolgerung sein, daß die beste
Strategie, die Kriminalitätsziffern zu senken, darin besteht, die
Zahl der Polizeibeamten zu senken. Die Existenz des „Lüchow-Dannenberg-Syndroms"
sollte zu denken geben: Die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung ?
und damit der Verlust der Fähigkeit, Konflikte ohne autoritative Einmischung
auszutragen ? steigt mit der Verfügbarkeit der Polizei. Ob das wünschenswert
ist?
Die kritische Lektüre der Zahlen ist eigentlich vorbildlich. Denn
damit befleißigt man sich einer Methode, die immer angebracht sein
sollte, wenn von Statistik die Rede ist. Komisch ist nur, daß diese
Methode höchst selektiv angewendet wird: Immer dann, wenn die Zahlen
der polizeilichen Kriminalstatistik einen Anstieg der Kriminalität
verkünden, werden sie akzeptiert als getreuliches Abbild der Wirklichkeit.
Wenn die Zahlen der registrierten Straftaten hingegen zurückgehen,
dann werden plötzlich die kritischen Geister wach und verweisen im
Zweifel auf ein aufzuhellendes Dunkelfeld. Und so kommt erstaunlicherweise
immer dasselbe Ergebnis heraus: Die Lage ist schlecht.
Niemand wird bestreiten, daß jugendliche „Intensivtäter"
in Berlin Probleme bereiten ? zuvörderst ihren Opfern. Doch wie sich
jetzt wieder das heute journal an der Dramatisierung des Kriminalitätsgeschehens
beteiligt, ist fahrlässig und unmoralisch. Fahrlässig, weil es
Angst erzeugt, die in der Regel in die freiheitsbeschränkende Forderung
nach mehr Polizei, weiteren Gesetzen und härteren Strafen mündet.
Unmoralisch, weil es sich zu Bütteln von eloquenten Lobbyisten macht,
zu denen auch „Experten" wie Christian Pfeiffer gehören, die ihre
ganz eigenen Ziele verfolgen. Sie alle sind Profiteure von Untergangsszenarien,
die mit schöner Regelmäßigkeit hinausposaunt werden. Jüngst
vom heute journal, morgen von einer anderen Sendung, übermorgen von
einer Tageszeitung. Auf diese Weise sorgt man dafür, daß die
Probleme, die man zu lösen vorgibt, bestehen bleiben.
Benno Kirsch