Ausgabe 01 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Versteinerungen für 50 Cent

Zwei Kinder erproben innovative Beschäftigungsformen vor dem JobCenter

In der letzten Zeit habe ich mich intensiv mit neuen Formen von Arbeit beschäftigt. Da mehr als 300000 Berliner arbeitslos sind und immer mehr Menschen in sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, verlangt die Situation nach neuen Ideen und Lösungen.

Ich bin unterwegs und folge einer Einladung zu einem Diskussionsforum für innovative Beschäftigungsformen. Auf dem Weg dorthin bin ich in Gedanken vertieft an eine Verbesserung der Absicherung von prekär Beschäftigten und den Übergang zu einer pluralen Ökonomie der Gerechtigkeit mit neuen Formen des Arbeitens innerhalb institutionell tragfähiger Strukturen.

In derartige Träumereien versunken, gehe ich an einem JobCenter vorbei. Viele Menschen, die offenbar auf dem Weg dorthin sind, kommen mir entgegen. Etwas resigniert blicke ich ihnen hinterher. Plötzlich bemerke ich etwas Sonderbares.

An einer Straßenecke stehen zwei kleine Jungen. Sie rufen: „Steine! Schöne Steine!" Sie haben einen kleinen Tisch am Wegesrand aufgestellt, auf dem kleine und große Steine mit Preisschildern zwischen 20 Cent und einem Euro liegen. Die Leute würdigen den Steinladen keines Blickes. Vielleicht weil es noch sehr früh ist und das Amt gleich öffnet.

Ich bleibe kurz stehen, um mir den Laden genauer anzusehen. Einer von den Jungen kommt auf mich zu und bietet mir eine schöne Versteinerung für 50 Cent an. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Versteinerung nicht nur ein einfacher Kieselstein ist, jedoch versteinert ist dieser Kiesel zweifellos. Ich überlege kurz, während ich mir den Stein genau ansehe und dabei so tue, als würde ich mich bei den heutigen Kieselsteinpreisen gut auskennen. Schließlich sage ich: „Ich glaube, daß diese Versteinerung sehr alt ist. Wahrscheinlich ist sie früher einmal ein viel größerer Kieselstein gewesen." Die beiden Jungen nicken zustimmend, als hätte ich recht. „Der kostet 75 Cent," sagt der eine. „75 Cent," wiederholt der andere. „75 Cent," sage auch ich daraufhin. „Ich glaube, daß das ein ganz besonderer Stein ist. Darum werde ich ihn auch kaufen," sage ich und zücke mein Portemonnaie. Die Gesichter der beiden strahlen, und man sieht ihre Zahnlükken.

Ich bezahle und frage in die Runde, wer hier der Geschäftsführer sei. „Ich," sagt der größere. Er heißt Aron. „Und der da?" frage ich. „Das ist mein Angestellter", sagt Aron. Der Angestellte grinst, als sei er der glücklichste Angestellte der Welt. „Froh über diesen Arbeitsplatz?" frage ich den Angestellten. Dieser nickt schnell und breit grinsend. Das scheint seinem Chef zu gefallen, denn er nimmt ihn kurz in den Arm. „Er heißt Jonas", sagt Aron.

Aron und Jonas sind neun und sieben Jahre alt. Sie gehen beide auf die freie Ufa-Schule und sind in der vierten bzw. in der zweiten Klasse. Mit dem Steinladen haben sie ein junges Unternehmen gegründet. Aron, der Geschäftsführer, hat selber all diese Steine, Versteinerungen und Muscheln im letzten Urlaub mit seinen Eltern in Südfrankreich gesammelt. Seine Eltern haben ihm bei der Suche geholfen. „Nach manchen bin ich sogar getaucht", sagt Aron, „ich hatte einen Schnorchel und Flossen und habe die Versteinerungen und Muscheln vom Meeresboden aufgesammelt." Nun kann man die Muscheln bei ihm erwerben. „An manchen Steinen kann man Spuren von Kristallen erkennen", sagt Aron. Ich schaue ganz genau hin und sehe tatsächlich etwas am Rande funkeln. „Aha", bemerke ich. Der Angestellte grinst glücklich.

Plötzlich kommen noch zwei Jungs dazu. Ein größerer und einer, der fast genauso aussieht wie der Angestellte. „Das sind meine Freunde, Kaspar und Jakob. Jakob ist der Bruder von Jonas", sagt Aron. Ich frage Jonas, was sie mit dem Geld machen, das sie verdienen. „Das hauen wir auf dem Kopf", sagt Jonas. „Aber einmal hat Kaspar unseren Laden überfallen und ausgeraubt. Da hatten wir nichts mehr." Ich staune. Jonas fährt fort: „Aber dann kam er wieder und hat das Geld zurückgebracht." Ich schaue Kaspar ernst an. Kaspar mit gesenktem Kopf: „Es waren vier Euro. Die habe ich wieder zurückgebracht." „Und dann haben wir sie gemeinsam auf den Kopf gehauen", sagt Jonas. Jetzt will ich nur noch wissen, warum Aron überhaupt einen Angestellten braucht. „Wir teilen uns das Geld, und gemeinsam macht es eben viel mehr Spaß", sagt Aron. Jonas, sein Angestellter, grinst über beide Ohren und scheint sehr zufrieden mit seinem Tarif zu sein. „Schöne Firmenphilosophie, weiter so", sage ich. Ich muß doch zum Diskussionsforum über innovative Beschäftigungsformen.

Waldemar Olesch

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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