Ausgabe 01 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Ruhe in Frieden, Dornröschenland!

Die Brache am Gleisdreieck soll einem Park weichen

Eigentlich sollte an dieser Stelle eine Lobeshymne stehen, denn eigentlich ist es eine tolle Sache, daß auf dem riesigen Brachgelände rund um das Gleisdreieck ein großer öffentlicher Park entsteht. In einer Stadt, die oft wie ein Versuchslabor der Immobilienmafia erscheint, muß man ja für jeden Grünstreifen dankbar sein. Außerdem ist die Entstehungsgeschichte dieses Parks bemerkenswert: Jahrelang hatte eine Bürgerinitiative gegen die Pläne einer Bebauung gekämpft und war am Ende erfolgreich. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ist ungewohnt demokratisch vorgegangen, die Bürger konnten im Internet und auf Diskussionsforen bei der Gestaltung mitbestimmen, und die meisten Anregungen werden nun auch umgesetzt.

Trotzdem ist der Beginn der Arbeiten nicht nur Anlaß zu Freude und Jubel, sondern auch zu Trauer und Melancholie: Hier verschwindet nicht einfach irgendeine Brache, hier verschwindet die schönste, wildeste, unberührteste und verwunschenste Brache der Innenstadt. Zeit für einen Nachruf also.

Man konnte das Brachgelände früher nur von einer Seite, vom Landwehrkanal her betreten. Man ging zwischen Technikmuseum und Spektrum hindurch und betrat die ehemalige Verladestraße des Anhalter Bahnhofs. Die flachen Ladegebäude auf der linken Seite werden heute vom Technikmuseum und einigen kleinen Firmen genutzt. Die Gebäude auf der rechten Seite sind größtenteils zerstört. Die Fassaden zur Ladestraße sind zwar erhalten, aber durch Fenster wachsende Bäume und Sträucher lassen erkennen, daß dahinter nur noch die Natur wohnt. Wenn man über eine der zerklüfteten Mauern klettert, steht man sofort in Dornröschenland: Dornen- und Lianengewächse versperren die Wege, die Büsche wachsen hüfthoch. Nur noch einige mit gebrauchten Kondomen und Jointstummeln übersäte Trampelpfade weisen auf die Art der Nutzung dieses romantischen Örtchens hin. Kämpft man sich weiter durch das Dickicht Richtung Süden, dann stößt man an einen Zaun, hinter dem die Vegetation auf den ersten Blick ebenso unberührt wirkt wie vor dem Zaun. Bei genauerem Hinsehen erkennt man aber seltsame Objekte: Skulpturen aus zusammengeschweißten Maschinenteilen und Werkzeugen, Holzgerüste und überall dazwischen, in allen Größen, Ginkgobäume! Es ist der Anhalter Garten, das Reich und Atelier des Künstlers Ben Wagin, der aber, wie seine Arbeiten, eher der Sphäre der Natur zuzurechnen ist als jener der Menschen.

Also zurück auf die Ladestraße und weiter nach Süden. Die letzte Bastion der Zivilisation ist die provisorische Anlage des Restauranttheaters „Pomp Duck and Circumstance", danach gibt es keine Zäune mehr. Alte Gleise, zum Teil überwuchert, führen in ein Birkenwäldchen. Dort tun sich immer wieder Lichtungen auf, und man staunt, wie weit man von den nächsten Häusern entfernt ist. Die Gebäude der umliegenden Straßen spitzeln gerade so über die Bäume hinweg, der Potsdamer Platz erhebt sich in der Ferne wie ein verrücktes Märchenschloß.

Plötzlich steht man vor zerfallenen Bahngebäuden und einem Weichensignal. Diese technischen Artefakte sollen im zukünftigen Park stehenbleiben, dafür haben sich die meisten Teilnehmer der Internetabstimmung ausgesprochen. Aber den morbiden Charme, den diese alten Gebäude, Gleisschwellen und Signalanlagen atmen, die sich wie im Kampf gegen die würgenden Lianen aufbäumen und diesen Kampf zum Teil längst verloren haben, kann kein noch so behutsam angelegter Park erhalten.

Noch ein Stückchen weiter fällt das Gelände plötzlich ab und man steht über der Yorckstraße, auf einer der vielen verrosteten Brücken. Auch diese Brücken wollten die Bürger gerne in den Park integrieren, einige davon werden wohl aber doch abgerissen. Sobald man sie überquert hat, wird man wieder vom Dornröschenwald verschluckt. Auf dieser Seite der Yorckstraße wächst er noch dichter und ist noch schwerer zu durchdringen. Je länger man sich weiter nach Süden kämpft, wundert man sich, wie weit dieser echte Dschungel mitten im Großstadtdschungel noch reicht. Er geht tatsächlich noch ein ganzes Stückchen weiter, bis zur Monumentenstraße.

Nur so, zu Fuß, erschließt sich die Größe des Geländes.

Doch, dieser Park wird gigantisch werden, immerhin reicht er im Osten fast bis an den Potsdamer Platz. Allerdings wird nicht alles, was heute Brache ist, morgen ein Park. Große Teile des Geländes gehören der Vivico, der ehemaligen Eisenbahnimmobilienverwaltung. Und die würde gerne so viel wie möglich bebauen und so lukrativ wie möglich verscheppern. Den Bauphantasien der Vivico wird zum Beispiel ein Biotop der ganz anderen Art zum Opfer fallen: Das Gelände der Autoschrauber zwischen Bahntrasse und Yorckstraße. Von der S-Bahn aus erhascht man ab und zu einen Blick auf die improvisierten Baracken und die vielen Autos, die dort verschrottet, demontiert, repariert, verkauft und verschoben werden. Es gibt zu diesem Gelände nur einen Zugang, genau gegenüber vom U-Bahnhof Yorckstraße. Auch in diesem Biotop hat man schon nach wenigen Metern das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein, zumindest in einem anderen Land. Die Straße ist nicht asphaltiert, am Wegesrand gammeln ausgebrannte oder völlig entkernte Wracks vor sich hin. Auf unebenen Höfen stehen Autos zum Verkauf, dazwischen huschen geschäftige Männer hin und her. Über jedem dieser Höfe thront das Verkaufsgebäude: wahlweise ein Container oder selbstgebastelte Barakken auf Stelzen. Einen pittoresken Charme versprühen die Accessoires: Fast alle dieser Baracken sind mit irgendwelchen Pflanzenkübeln und natürlich einer Deutschlandfahne verziert, die meisten haben einen Zwinger mit permanent bellenden Hunden, und es gibt sogar den einen oder anderen Hühnerstall.

Was genau die Leute dort treiben, vermag der Autor dieser Zeilen nicht zu sagen, nur daß dauernd Männer mit alten Autos auf das Gelände fahren und es kurze Zeit darauf mit neuen ­ oder neu aussehenden ­ wieder verlassen. Das muß nicht illegal sein; man wird aber als offensichtlich nicht an Autos interessierter Besucher, der hie und da eine Frage stellen oder ein Foto machen will, unmißverständlich darauf hingewiesen, daß man an Publikum nicht sonderlich interessiert ist. Die Standardbegrüßung lautet: „Kripo, oder was?" Dennoch ist es schade, wenn dort irgendwelche Bürogebäude gebaut werden, nicht nur für die Leute, die hier Autos gekauft und verkauft haben, sondern für alle, die Freude am farbenfrohen Treiben dort und an der exotischen Schönheit der improvisierten Hütten haben.

Sicher, so ein Park ist mit das Beste, was man aus einer Brache machen kann, aber eine Brache an sich ist auch sehr schön, und je weniger es davon gibt, desto mehr sollte das Bewußtsein dafür wachsen. Die Stadt verändert sich eben, aber um dieses Stückchen Dschungel ist es – mag danach kommen, was wolle – einfach jammerschade!

Moritz Feichtinger

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 01 - 2007 © scheinschlag 2007