Nicht bezifferbare Kosten veralteter Instrumente
Die Höhe des Regelsatzes von ALG II sagt nichts über die Menschenwürde
Foto: Knut Hildebrandt
Das Urteil des Bundessozialgerichts zur Höhe des
Regelsatzes bei ALG II war mit Spannung erwartet worden. Eine Frau
hatte sich durch die Instanzen geklagt, weil sie meinte, 345 Euro seien
zum Leben zu wenig. Doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht: Das
Gericht hatte gegen die Höhe des Regelsatzes „keine
durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken" und auch nicht
„gegen die aus den Gesetzesmaterialien nachzuvollziehende Art der
Bedarfsermittlung und deren Ergebnis." Mit einem Wort: Die Höhe
und Art der Ermittlung des Regelsatzes ist kein Verstoß gegen die
Menschenwürde. Die Reaktionen waren vorhersehbar. So warf ein
Aktivist dem Gericht vor, „sich selbst zum Vollstrecker
neoliberaler Haushaltspolitik gemacht" und „den Armutssturz fast
ins Bodenlose" durch Hartz IV legitimiert zu haben. Und die
Erwerbsloseninitiativen und Wohlfahrtsverbände fordern ohnehin
schon lange einen Regelsatz in Höhe von 420 bzw. 500 Euro oder
mehr.
Nun hat, wer anläßlich des Urteils gegen die
Höhe des Regelsatzes protestiert, zweifelsfrei recht. 345 Euro
sind zum Leben verdammt wenig. Und dieses Geld steht den Betroffenen ja
nicht einmal vollständig zur Verfügung, sondern davon
müssen Heizung und Lebensmittel bezahlt werden. Was zur freien
Verfügung bleibt, ist im Grunde nichts. Auch die Art, wie der
Gesetzgeber auf den Regelsatz kommt, ist abenteuerlich, wenn nicht
sogar skandalös, weil bei der Berechnung grob gesagt
das Ausgabeverhalten von Rentnerinnen zugrunde gelegt wird, aber
vorwiegend jüngere Menschen mit dem, was dann herauskommt,
zurechtkommen müssen. Dennoch überdecken die berechtigten
Frustrationen der Betroffenen und die ebenfalls berechtigten Proteste
der professionellen Helfer über die Armut von ALG II-Beziehern das
entscheidende Problem.
Arm sein ist zweifelsfrei unschön und auch in
Deutschland mit einer Reihe von Demütigungen verbunden. Bei armen
Menschen ist das ganze Leben wie auf Kante genäht: Nichts darf in
die Brüche gehen, weder das Geschirr noch die Zähne. Denn
Ersatz von derartigen Dingen ist in der Berechnung des Regelsatzes
nicht vorgesehen. Wenn der Volksmund sagt, daß Geld allein nicht
glücklich macht, aber ungemein beruhigt, hat er recht. Auch die
Demütigung, die viele empfinden, die jahrelang in die
Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben und sich nun auf einer Stufe
mit denen wiederfinden, auf die sie immer hinabgeblickt haben, also den
Alkoholikern und Arbeitsunwilligen, darf nicht kleingeredet werden.
Insofern liefert das Urteil weiterhin gute Gründe, nicht die
Waffen zu strecken und die Zumutung der Armut durch den Regelsatz nicht
einfach hinzunehmen, sondern ist umgekehrt Ansporn, weiterhin zu
kämpfen. Allerdings muß Kritik an einer anderen Stelle
ansetzen als an seiner Höhe. Denn wer nur sie im Blick hat und wie
sie zustande kommt, der ist der herrschenden Logik auf den Leim
gegangen: der Annahme, daß man nur an ein paar Schrauben drehen
müsse, um die strukturelle Arbeitslosigkeit zu beseitigen.
Denn der eigentliche Skandal ist nicht materieller Art,
sondern passiert täglich ganz lautlos und im Verborgenen. Jeder
Leistungsempfänger kann ein Lied davon singen. So lautet
„Fördern und Fordern" das Motto. Doch vor allem ist vom
„Fordern" die Rede; erst zum Jahreswechsel wurden die Sanktionen
für unbotmäßige Leistungsempfänger
verschärft. Das ist innerhalb der sozialbürokratischen Logik
folgerichtig, denn jeder Leistungsempfänger steht unter dem
Verdacht, Leistungsbetrüger und arbeitsscheu zu sein. Deshalb
handelt es sich bei der standardmäßigen „Prüfung
der Arbeitsbereitschaft" durch Ein- Euro-Job oder ABM
eingestandenermaßen nicht um ein Förderinstrument, sondern
dient dazu, „die Beschäftigungsfähigkeit von
Langzeitarbeitslosen zu testen und zu fordern." In dieses Bild
paßt der vor kurzem geäußerte Vorschlag, alle
Transferleistungsempfänger mit Chipkarten auszustatten, was eine
lückenlose Kontrolle aller Geldflüsse bedeuten würde.
Mit einem Wort: Den Behörden geht es vor allem darum,
unterstelltes unmoralisches Verhalten zu sanktionieren.
Umgekehrt funktioniert es mit dem „Fördern"
nicht so recht. Die Klagen von ALG II-Empfängern darüber,
daß die Behördenmitarbeiter von Strukturen und
Funktionsweise des Arbeitsmarktes keine Ahnung haben, sind Legion. In
der Summe verdammen die Vorschriften und Durchführungsbestimmungen
den „Bedürftigen" zum Nichtstun: Die einzige erwünschte
Aktivität ist in der Regel die, sich auf die Stellen zu bewerben,
die ihm angeboten werden. Jedes Engagement, das über diese
nachweisbare Art der Stellensuche hinausgeht, ist trotz
Formelbekenntnissen des Gesetzes verdächtig und tunlichst ohne
Kenntnis der Behörde auszuführen. Die bittere Erkenntnis
lautet: Insgesamt ist das Reglement darauf ausgerichtet, den
Transferleistungsempfänger in der Abhängigkeit der
Behörde und den Teufelskreislauf aus Schikanen und
Rechtfertigungszwang zu halten.
Blind für die Realitäten des Arbeitsmarktes,
dient der sozialbürokratische Komplex dreierlei: die
Hilfebedürftigen auf Trab zu halten, den Beitragszahlern zu
bedeuten, daß man die vermeintlichen Faulenzer schon wieder zum
Arbeiten bringen werde, und sich selbst zu erhalten. Seine Instrumente
stammen aus einer Zeit, in der es Vollbeschäftigung und keine
„Überflüssigen" gab. Arbeit, verstanden als
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung das ist das
Paradigma, dem nach wie vor alles untergeordnet wird. Individuelle
Lebenslagen werden ignoriert und in ein Korsett aus Instrumenten
gepreßt, das für ganz andere soziale Realitäten
ersonnen wurde und ausschließlich behördeninternen Prozessen
angemessen ist. Die wahren Kosten, die durch diese Art der
Problembewältigung entstehen, können nicht beziffert werden.
Bekannt ist lediglich, daß sie entstehen und vor allem in den
Aufwendungen für Ärzte und Polizei enthalten sind.
Sind 345 Euro zu wenig, um ein menschenwürdiges
Leben zu führen? Ja und nein, doch ist bereits die Frage falsch
gestellt. Viel entscheidender sind die Zumutungen, die sich nicht
quantifizieren lassen und in keiner Statistik auftauchen. Wenn man den
klassischen Leistungsempfänger, der sich nicht selbst helfen kann,
zum Maßstab macht, dann kann man allenfalls systemimmanente,
behördenlogikkonforme Kritik üben und sich dann von
Kurt Beck&Co. am Nasenring durch die Arena führen lassen.
Implizit werden damit die täglichen Skandale akzeptiert, die dem
Sumpf der „Fördern-und-Fordern"-Ideologie erwachsen. Geld
hat man eigentlich immer zu wenig, aber die Menschenwürde, die
durch die Gesamtheit der Regularien täglich verletzt wird,
läßt sich nicht in Euro und Cent ausrechnen.
Benno Kirsch