Ausgabe 01 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Nicht bezifferbare Kosten veralteter Instrumente

Die Höhe des Regelsatzes von ALG II sagt nichts über die Menschenwürde


Foto: Knut Hildebrandt

Das Urteil des Bundessozialgerichts zur Höhe des Regelsatzes bei ALG II war mit Spannung erwartet worden. Eine Frau hatte sich durch die Instanzen geklagt, weil sie meinte, 345 Euro seien zum Leben zu wenig. Doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht: Das Gericht hatte gegen die Höhe des Regelsatzes „keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken" und auch nicht „gegen die aus den Gesetzesmaterialien nachzuvollziehende Art der Bedarfsermittlung und deren Ergebnis." Mit einem Wort: Die Höhe und Art der Ermittlung des Regelsatzes ist kein Verstoß gegen die Menschenwürde. Die Reaktionen waren vorhersehbar. So warf ein Aktivist dem Gericht vor, „sich selbst zum Vollstrecker neoliberaler Haushaltspolitik gemacht" und „den Armutssturz fast ins Bodenlose" durch Hartz IV legitimiert zu haben. Und die Erwerbsloseninitiativen und Wohlfahrtsverbände fordern ohnehin schon lange einen Regelsatz in Höhe von 420 bzw. 500 Euro oder mehr.

Nun hat, wer anläßlich des Urteils gegen die Höhe des Regelsatzes protestiert, zweifelsfrei recht. 345 Euro sind zum Leben verdammt wenig. Und dieses Geld steht den Betroffenen ja nicht einmal vollständig zur Verfügung, sondern davon müssen Heizung und Lebensmittel bezahlt werden. Was zur freien Verfügung bleibt, ist im Grunde nichts. Auch die Art, wie der Gesetzgeber auf den Regelsatz kommt, ist abenteuerlich, wenn nicht sogar skandalös, weil bei der Berechnung ­ grob gesagt ­ das Ausgabeverhalten von Rentnerinnen zugrunde gelegt wird, aber vorwiegend jüngere Menschen mit dem, was dann herauskommt, zurechtkommen müssen. Dennoch überdecken die berechtigten Frustrationen der Betroffenen und die ebenfalls berechtigten Proteste der professionellen Helfer über die Armut von ALG II-Beziehern das entscheidende Problem.

Arm sein ist zweifelsfrei unschön und auch in Deutschland mit einer Reihe von Demütigungen verbunden. Bei armen Menschen ist das ganze Leben wie auf Kante genäht: Nichts darf in die Brüche gehen, weder das Geschirr noch die Zähne. Denn Ersatz von derartigen Dingen ist in der Berechnung des Regelsatzes nicht vorgesehen. Wenn der Volksmund sagt, daß Geld allein nicht glücklich macht, aber ungemein beruhigt, hat er recht. Auch die Demütigung, die viele empfinden, die jahrelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben und sich nun auf einer Stufe mit denen wiederfinden, auf die sie immer hinabgeblickt haben, also den Alkoholikern und Arbeitsunwilligen, darf nicht kleingeredet werden. Insofern liefert das Urteil weiterhin gute Gründe, nicht die Waffen zu strecken und die Zumutung der Armut durch den Regelsatz nicht einfach hinzunehmen, sondern ist umgekehrt Ansporn, weiterhin zu kämpfen. Allerdings muß Kritik an einer anderen Stelle ansetzen als an seiner Höhe. Denn wer nur sie im Blick hat und wie sie zustande kommt, der ist der herrschenden Logik auf den Leim gegangen: der Annahme, daß man nur an ein paar Schrauben drehen müsse, um die strukturelle Arbeitslosigkeit zu beseitigen.

Denn der eigentliche Skandal ist nicht materieller Art, sondern passiert täglich ganz lautlos und im Verborgenen. Jeder Leistungsempfänger kann ein Lied davon singen. So lautet „Fördern und Fordern" das Motto. Doch vor allem ist vom „Fordern" die Rede; erst zum Jahreswechsel wurden die Sanktionen für unbotmäßige Leistungsempfänger verschärft. Das ist innerhalb der sozialbürokratischen Logik folgerichtig, denn jeder Leistungsempfänger steht unter dem Verdacht, Leistungsbetrüger und arbeitsscheu zu sein. Deshalb handelt es sich bei der standardmäßigen „Prüfung der Arbeitsbereitschaft" durch Ein- Euro-Job oder ABM eingestandenermaßen nicht um ein Förderinstrument, sondern dient dazu, „die Beschäftigungsfähigkeit von Langzeitarbeitslosen zu testen und zu fordern." In dieses Bild paßt der vor kurzem geäußerte Vorschlag, alle Transferleistungsempfänger mit Chipkarten auszustatten, was eine lückenlose Kontrolle aller Geldflüsse bedeuten würde. Mit einem Wort: Den Behörden geht es vor allem darum, unterstelltes unmoralisches Verhalten zu sanktionieren.

Umgekehrt funktioniert es mit dem „Fördern" nicht so recht. Die Klagen von ALG II-Empfängern darüber, daß die Behördenmitarbeiter von Strukturen und Funktionsweise des Arbeitsmarktes keine Ahnung haben, sind Legion. In der Summe verdammen die Vorschriften und Durchführungsbestimmungen den „Bedürftigen" zum Nichtstun: Die einzige erwünschte Aktivität ist in der Regel die, sich auf die Stellen zu bewerben, die ihm angeboten werden. Jedes Engagement, das über diese nachweisbare Art der Stellensuche hinausgeht, ist trotz Formelbekenntnissen des Gesetzes verdächtig und tunlichst ohne Kenntnis der Behörde auszuführen. Die bittere Erkenntnis lautet: Insgesamt ist das Reglement darauf ausgerichtet, den Transferleistungsempfänger in der Abhängigkeit der Behörde und den Teufelskreislauf aus Schikanen und Rechtfertigungszwang zu halten.

Blind für die Realitäten des Arbeitsmarktes, dient der sozialbürokratische Komplex dreierlei: die Hilfebedürftigen auf Trab zu halten, den Beitragszahlern zu bedeuten, daß man die vermeintlichen Faulenzer schon wieder zum Arbeiten bringen werde, und sich selbst zu erhalten. Seine Instrumente stammen aus einer Zeit, in der es Vollbeschäftigung und keine „Überflüssigen" gab. Arbeit, verstanden als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ­ das ist das Paradigma, dem nach wie vor alles untergeordnet wird. Individuelle Lebenslagen werden ignoriert und in ein Korsett aus Instrumenten gepreßt, das für ganz andere soziale Realitäten ersonnen wurde und ausschließlich behördeninternen Prozessen angemessen ist. Die wahren Kosten, die durch diese Art der Problembewältigung entstehen, können nicht beziffert werden. Bekannt ist lediglich, daß sie entstehen und vor allem in den Aufwendungen für Ärzte und Polizei enthalten sind.

Sind 345 Euro zu wenig, um ein menschenwürdiges Leben zu führen? Ja und nein, doch ist bereits die Frage falsch gestellt. Viel entscheidender sind die Zumutungen, die sich nicht quantifizieren lassen und in keiner Statistik auftauchen. Wenn man den klassischen Leistungsempfänger, der sich nicht selbst helfen kann, zum Maßstab macht, dann kann man allenfalls systemimmanente, behördenlogikkonforme Kritik üben ­ und sich dann von Kurt Beck&Co. am Nasenring durch die Arena führen lassen. Implizit werden damit die täglichen Skandale akzeptiert, die dem Sumpf der „Fördern-und-Fordern"-Ideologie erwachsen. Geld hat man eigentlich immer zu wenig, aber die Menschenwürde, die durch die Gesamtheit der Regularien täglich verletzt wird, läßt sich nicht in Euro und Cent ausrechnen.

Benno Kirsch

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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