Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Hauptstadt der Unterschicht

Es entbehrte nicht einer gewissen Komik, daß ausgerechnet Winfried Hassemer die Urteilsbegründung vortrug, mit der das Bundesverfassungsgericht die Klage des Landes Berlin auf finanzielle Hilfe des Bundes abschmetterte. Besonders, als Hassemer eine genüßliche Replik auf das Arm-aber-sexy-Bonmot Wowereits lieferte: Vielleicht sei Berlin deshalb sexy, weil es doch nicht so arm sei. Womöglich hat Hassemer dabei an das eine oder andere launige Expertengespräch mit seinem Bruder gedacht. Der heißt Volker und war mal, Anfang der 90er, CDU-Stadtentwicklungssenator in Berlin. Zu einer Zeit, als die Große Koalition unter Eberhard Diepgen vor lauter Hauptstadtbesoffenheit ein prima Projekt nach dem anderen in den Berliner Sand setzte. Peinliche Olympiabewerbungen, absurde Wachstumserwartungen, größenwahnsinnige Planungen nebst Immobilienskandalen und später auch noch einer charmanten Bankenpetitesse: Dies alles verantwortete der damalige Senator Volker Hassemer – später „Partner für Berlin"-Chef – mit. Und auch der Bund zahlte für die große Berlin-Party. Noch.

Das ist über zehn Jahre her, den Kater hatten dann andere auszubaden. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert, die Reaktionen auf das Berlin-Urteil geben einen bemerkenswerteren Einblick in die derzeitige Verfaßtheit der Republik als das Urteil selbst. Der Spiegel etwa lieferte eine aufschlußreiche Interpretation: Berlin sei „die Hauptstadt der Armut, die Unterschicht der deutschen Bundesländer". Eine Unterschicht, die sich antriebslos auf dem Sofa fläzt in der Gewißheit, „die anderen werden schon für einen sorgen". Und sich dennoch unverschämten Luxus erlaubt: drei Opern! Gleich einem „Sozialhilfeempfänger, der seine große Wohnung behalten will, einen neuen Fernseher anschafft und sein großes Auto auf keinen Fall missen möchte". Der Zeit-Journalist Jens Jessen dagegen beschreibt die schadenfrohen Reaktionen der Ministerpräsidenten der „westdeutschen Provinz" Rüttgers, Stoiber, Koch, Wulff und von Beust auf das Urteil spöttisch als „Neid der Abgehetzten auf die Abgehängten": „Arm aber sexy ist genau die Charakterisierung eines Schwiegersohns, der ehrbare Bürger in ihren Albträumen heimsucht."

Daß die Unterschichten- mit der Berlin-Debatte kombiniert wird, mag auf den ersten Blick absurd wirken, ist aber nur konsequent. In beidem offenbart sich die Angst der Mittelschicht vor dem Absturz. Die leise Ahnung, daß das Wachstumsmantra der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, man müsse nur strebsam und fleißig genug sein, um attraktiv zu sein und aufzusteigen, nicht mehr funktionieren könnte, verunsichert das Land. Und wo sich solche Angst breit macht, wächst der Drang zur Abgrenzung genauso wie die Konkurrenz. Dazu paßt auch die gebetsmühlenartige Beschwörung des „neuen Stadtbürgers", einer Art Honoratiorengesellschaft, an deren Abwesenheit Berlin angeblich kranke.

Es geht um Gewinner und Verlierer, nicht nur im Mikrogefüge der Städte, sondern auch im föderalistischen System der Bundesrepublik. Die Hauptstadt-Debatte ist eine Hartz-IV-Debatte unter Bundesländern. Berlin liegt im Osten, nicht nur geographisch, auch hinsichtlich der flächendeckenden Deindustrialisierung und der Arbeitslosenquote. Aber anders als Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt könnte Berlin immer noch Konkurrenz darstellen: im Brain Drain, der Konkurrenz um Köpfe. In der Debatte über Opern, Autos und „unsere Steuergelder" wird auffällig selten erwähnt, wie etwa Bayern und Baden-Württemberg von der deutschen Einheit profitiert haben: mit einem enormen Zuwachs an hochqualifiziertem Nachwuchs, dem sogenannten „Humankapital", das wegen des Arbeitsplätzemangels in den neuen Bundesländern dorthin abwanderte. Der Mezzogiorno des Ostens ist den westlichen Bundesländern genauso Alarmsignal wie dem gut verdienenden Mittelschichtler der ALG II-Empfänger nebenan, der gestern noch einen Job hatte. Es geht – das macht auch das Urteil des Verfassungsgerichts klar – längst nicht mehr um drei Opern, sondern um das föderalistische Prinzip an sich: um Provinzfürsten, Kleinstaaterei und massive Standortkonkurrenz. Die westdeutsche Wirtschaftswundergesellschaft konnte sich den Förderalismus leisten. Wer ihn in seiner jetzigen Form mit Klauen und Zähnen verteidigt, muß auch sagen, welche Konsequenzen er für einen Staat in der Krise hat und auf wessen Rücken der Konkurrenzkampf ausgetragen werden wird.

Ulrike Steglich

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 10 - 2006 © scheinschlag 2006