Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
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Suche nicht den Erfolg

Die unbeschreiblichen Klangwelten von Pere Ubu


Foto: Jim Jones

Mit Why I Hate Women hat die Indie-Rock-Legende Pere Ubu ihr je nach Zählweise etwa zwanzigstes Album veröffentlicht. Hinzu kommen ähnlich viele Veröffentlichungen aus verschiedenen Nebenprojekten wie David Thomas And Two Pale Boys, David Thomas And The Pedestrians oder The Red Crayola. Grund genug, das außergewöhnliche Werk von David Thomas und seiner Mitstreiter zu würdigen.

Gegründet wurde Pere Ubu 1975 von dem Sänger David Thomas und dem Gitarristen Peter Laughner in Cleveland, Ohio. Der Name ist dem Theaterstück des Franzosen Alfred Jarry Ubu Roi entlehnt, eine Groteske, die vor etwa 100 Jahren wegen der Verwendung des Wortes „Schoiße" („merdre") einen Skandal verursachte und in der die Figur Ubu für eine anarchische Gegenwelt steht, die die bestehende Ordnung subvertiert oder zumindest relativiert.

Bereits 1975 brachten Pere Ubu ihre erste Single 30 Seconds Over Tokyo/ Heart Of Darkness heraus. Anfang 1976 folgte mit Final Solution/Cloud 149 die zweite. Jeder dieser frühen Songs enthält mehr Kreativität und Originalität als das Gesamtwerk etwa der Rolling Stones. Sie sind gemeinsam mit weiteren frühen Singles auf Terminal Tower erschienen ­ ein Muß für jeden Fan von harter, experimenteller und schräger Gitarrenmusik.

1978 erschienen die beiden ersten LPs The Modern Dance und Dub Housing, bis 1982 folgten vier weitere. Alle wurden von der Kritik gefeiert. So wurde Pere Ubu vom New Musical Express „zur einzigen expressionistischen Rock'n'Roll-Band der Welt" und von The Wire gar zur „größten Rock'n'Roll-Band des Jahrhunderts und vermutlich auch des nächsten" erklärt. Ihre Produktionen hatten einen kaum zu unterschätzenden Einfluß, verkauften sich aber nur mäßig. Kein Wunder, denn es gibt wenige Musiker, die sich einer kommerziellen Verwertung über einen so langen Zeitraum so konsequent verweigert haben.

Getreu den Grundsätzen der Band wie „Don't seek success", „Take the first idea you get" oder „Delay Centrifugal Destruct Factors for as long as possible then push the button" werden die Kompositionen systematisch dekonstruiert. Besonders 30 Seconds Over Tokyo und Final Solution sind großartige Beispiele für den Aufbau von Spannung, rhythmische und melodische Brüche sowie zerfallende Songstrukturen. Wie die Musik von Velvet Underground oder Iggy Pop and the Stooges, deren Stücke Pere Ubu in ihrer Frühphase in Ermangelung eigener Stücke coverten, klingen sie auch Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung noch frisch und interessant.

1983 löste sich Pere Ubu auf, worauf David Thomas diverse Soloalben veröffentlichte. The Tenement Year erschien 1988 wieder unter dem alten Bandnamen. Die Geschichte der Band ist zwar von Auflösungen und Umbesetzungen geprägt, aber es gibt dennoch eine erstaunliche Kontinuität, denn die Mitwirkenden rekrutieren sich meistens aus Cleveland. „Wenn ich mit denen darüber rede, was hinter dem Laternenpfahl an der Carnegie-Bridge zu sehen ist, dann sehen und fühlen die dieselben Dinge wie ich. Sie haben dasselbe Wissen, wir haben denselben Wortschatz ­ und das ist meiner Meinung nach gut. Ich möchte aus der Musik ein ganz bestimmtes geographisch-soziales Erlebnis bekommen", sagte Thomas hierzu einmal. Viele kehren immer wieder zurück, wie die Gitarristen Tom Herman und Jim Jones, die beide auf St Arkansas von 2002 zu hören sind; Herman war bereits Gründungsmitglied, Jones kam 1988 dazu.

Auch die Musik von Pere Ubu besitzt große Kontinuität. Sie ist schwer zu beschreiben; die gängigen Bezeichnungen reichen von (Art-)Punk über Industrial und New Wave bis absurderweise Prog Rock. Mit Genesis, Pink Floyd und Konsorten haben Pere Ubu aber herzlich wenig gemeinsam. Und Punk, Industrial, New Wave existierten bei Gründung der Band noch gar nicht, insofern waren sie stilprägende Vorreiter. David Thomas hat eine Einordnung immer abgelehnt oder aber einfach von Rockmusik, Folk oder Avant-Garage gesprochen. Letzteres war zwar als Witz gemeint, trifft die Sache aber ganz gut.

Einzigartig ist die zwischen Aggressivität und Flehen wechselnde Stimme von David Thomas, die für einen Mann seines ernormen Körperumfangs erstaunlich hoch, aber trotzdem voluminös ist. Die Texte sind oft surrealistisch und sehr ironisch. Leider sind sie den Platten nicht beigefügt, denn „Texte abzudrukken ist schlecht" (Thomas).

Ein weiteres wichtiges Element des Sounds von Pere Ubu ist der analoge Synthesizer, der zunächst von Allen Ravenstine bedient wurde. Er erzeugte nicht den üblichen schleimigen Soundbrei, der alles zukleistert und die Werke schlechter Musiker vollends unerträglich macht, sondern setzte mit quietschenden oder fiependen Tönen ganz eigene Akzente, die beim Zerstören der Songstrukturen eine wichtige Rolle spielten. Leider verließ Ravenstine 1990 die Band, 1994 fand die Band jedoch in Robert Wheeler einen würdigen Nachfolger.

Gut für den Neueinsteiger, daß es eigentlich keine schlechte Platte von Pere Ubu gibt und daß die meisten nach wie vor erhältlich sind. Empfehlenswert sind neben der bereits erwähnten Terminal Tower die Platte von 1995 Raygun Suitcase und auch die aktuelle Why I Hate Women, die erfreulicherweise noch immer keinerlei Zugeständnisse an den Mainstream erkennen läßt. Von den Nebenprojekten ist besonders auf das mittlerweile konstanteste, David Thomas And Two Pale Boys, hinzuweisen.

Wegen der Bühnenpräsenz von David Thomas sind seine Live-Auftritte ein ganz eigenes Erlebnis. Dort kann man auch direkt bei ihm Platten kaufen, was er grundsätzlich mit einem feuchten Händedruck quittiert. Das nächste Konzert in Berlin wird allerdings wohl auf sich warten lassen, denn das letzte, grandiose fand gerade erst statt.

Frank Fitzner

Homepage der Band mit Diskographie: www.ubuprojex.net

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