Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1906/1907

30. November bis 31. Januar

Die Kaiserliche Familie ist vollzählig zusammengeführt, bei der Abendtafel gibt es das übliche Karpfengericht. Nach Aufheben der Tafel wird die Zeit bis Mitternacht durch Musizieren, Spiel und Unterhaltung verbracht. Als sich bald nach 11 Uhr die hohen Herrschaften mit ihren Gästen um die dampfende Punschbowle vereinigen, zu der frische Pfannkuchen gereicht werden, hebt sich die fröhliche Silvesterstimmung.

In der Philharmonie wird der seit Jahren traditionelle „Große Silvester-Maskenball" gefeiert. Schon früh füllen sich die gewaltigen Räume in der Bernburger Straße mit Damen in großer Toilette und Herren im Frack, nur vereinzelt sieht man Masken. Als das neue Jahr seinen Einzug hält, ertönt von der Estrade ein Chor mächtiger Fanfaren, dann verdunkelt sich der große Saal, und es beginnt das Schneetreiben. Aus gewaltigen Trichtern strömen hoch oben von der Decke die Papierschneeflocken herab und fallen auf das lustige Völkchen hernieder. Den ersten Sektpfropfen folgen bald die anderen in endloser Fülle.

Allen Klagen über die herrschende Teuerung zum Trotz hatten sich trunkfeste Deutsche beiderlei Geschlechts in so ungewohnten Massen in alle verfügbaren Restaurationen hineingeschoben, daß es bald langes Streiten und Feilschen um Plätze namentlich in den bevorzugten Bier- und Weinpalästen der Friedrichstadt gibt. Die reservierten Plätze waren in den letzten Tagen stark im Kurs gestiegen, den der Herr Ober je nach Qualifikation der seine Gunst erbittenden Stammgäste zu bestimmen beliebte.

Geschlossene Weinrestaurants bilden eine vereinzelte Ausnahmeerscheinung. Die Überfülle an Gästen ist die Regel selbst in denjenigen hypermodernen erstklassigen Salons, die sonst nur die zahlungfähigste Lebewelt betritt. In den mächtigen, mehrstöckigen Bierpalästen der Friedrichstraße läßt sich jeder Eintretende willig in den Festtrubel hineinziehen.

Auch die Wirte der kleineren Lokale und der Destillen sehen ihren Stamm in erheblich verstärkter Runde froh vereint. Ein Orchester fliegender Musikanten zieht von Lokal zu Lokal, und der frohen Zecher Chor fällt ein in die Weise „Wir halten fest und treu zusammen."

Das neue Jahr hält bei -5 Grad mit Hochrufen, Tücherschwenken und schallenden Prositrufen Einzug. Die Ovationen beginnen auf der Straße und setzen sich nach Berliner Tradition in der Familie, den überfüllten Wirtschaften und Ballokalen fort.

Widerwärtige Trunkenbolde von der Sorte der „Halbwüchsigen", deren Lebenselement der Radau in jeglicher Form ist, brüllen mit ihren rohen Stimmen „Prosit Neujahr", gleich einem Indianerruf, nicht gleich einer Parole des allgemeinen Glückwunsches. Mehrere Scharen dieser lärmlustigen Burschen marschieren in vorgerückter Morgenstunde nach dem Zentrum der Stadt. Auch einige bierselige Leute, die den Überzieher und den Hut auf dem Arm, ein Papiermützchen auf dem Kopf, die Restaurants verlassen, machen das Einschreiten von Schutzleuten notwendig. Es erfolgen 200 Sistierungen. Zu den zu ihrer eigenen Sicherheit auf die Polizeiwachen Gebrachten gehören auch eine Anzahl Zylinderträger, die, zum Teil des Scherzes halber, mit dem in dieser Nacht verpönten hohen Hute erschienen.

Ein vornehmer Herr, der mit seinen Bekannten gegen 4 Uhr morgens aus einem Weinlokal mit einem Zylinder heraustritt, muß schleunigst, von seinen Freunden geschützt, in ein Bierlokal flüchten. Er trägt eine starke Beule am Hinterkopf davon, wo er von einem Eisstück getroffen wurde.

Ein neues, plötzlich auftauchendes Scherzwort entsteht in der Neujahrsnacht. Einige Juristen begegnen sich und begrüßen sich wie gewöhnlich mit den Worten: „Guten Abend, Herr Kollege!" Wie ein Lauffeuer setzt sich der von anderen aufgenommene Zuruf fort, und bald hört man in fernster Ferne unter wildfremden Menschen die Begrüßungsform „Guten Abend, Herr Kollege!"

Über Nacht tritt mit Tauwetter ein völliger Wettersturz ein. Unter dem Einfluß einer bei Schottland gelegenen sehr tiefen Barometerdepression erheben sich in ganz Westdeutschland heftige, zum Teil stürmische Südwestwinde und führen eine außerordentlich rasche Erwärmung mit weit verbreiteten Niederschlägen herbei.

Falko Hennig

Foto: Archiv Hennig

Radio Hochsee Themenabend: „Dr. Zoidberg (Futurama)" mit Jakob Hein am 20. Dezember, 20.30 Uhr im Kaffee Burger, weitere Informationen unter www.Falko-Hennig.de

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