Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Von Reinickendorf träumen

Was Weddinger Jugendliche aus Gaza, Libanon, Bosnien,Türkei und Angola verbindet

„Darf ich dir was erzählen?" – „Ja." – „Du mußt das Ghettolied hören, von Massiv. Der ist Gangstarapper, der kommt hier aus dem Kiez. "

Ali beginnt zu rappen. „Das ist das Ghettolied. Komm mit in den Wedding, und dann weißt du, wo das Ghetto liegt. Das ist kein Fluch, das ist Schicksal, wir Kanaken landen immer im Gerichtssaal. Ketten aus Gold, 1200 Volt..." Er hat die Stirn in Falten gelegt, das coole Spiel mit den Armen kann er schon ganz gut. Nur die Tonlage ist nicht ganz Gangsta, sondern eher zwölfjähriger Ali, der die Stimme verstellt, so wie Kinder es tun, um das gemeine Monster zu sprechen. Ist ein Foto erlaubt? Klar. Ali ist nett. Er verschränkt die Arme und guckt fies. Ali, Gangstarapper. Soldiner Straße an einem sonnigen Novembertag.

Wenn der Soldiner Kiez im Wedding für irgendetwas bekannt ist, dann für seinen schlechten Ruf. Als „sozialer Brennpunkt", wo die Kids auf der Straße rumhängen, als Stadtteil, der in jeder Hinsicht problematisch ist ­ vor allem die Jugend, deren Eltern aus dem Libanon, der Türkei, aus Gaza und Bosnien stammen. Und seit es ein paar junge Kreuzberger mit der Headline „Gewalttätige Jugendliche verprügeln Polizei" zum Medienbuster gebracht haben, ist der pauschale Verdacht gegen sie noch unverhohlener und feindlicher geworden. Man stellt wieder mal die Frage: Was ist los mit den Kids in den Berliner Migrantenbezirken? Wie schlimm ist es wirklich? Was haben wir zu befürchten?

Thomas Kilian, der mitten im Kiez wohnt, ärgert dieser Argwohn. Er selbst ist nicht jugendlich, feiert bald seinen vierzigsten Geburtstag, ist Soziologe, frühverrentet und könnte ebenso gut wie andere die young men in sportswear, die in seiner Straße herumlungern, bedrohlich finden. Aber er sagt: „Diese Jugendlichen sind doch auch ein Reichtum. Weshalb dürfen sie erst mit Aufmerksamkeit rechnen, wenn sie es in die Charts der Polizeistatistik geschafft haben?" Kilian hat mit Frührentnern, ABMlern und Studenten aus dem Stadtteil ein Projekt in Gang gebracht, das sich „AG Kiezforschung" nennt. Sie haben die „Jugend mit Migrationshintergrund" selbst befragt: Was sie tun, wie sie leben, was sie sich wünschen.

Die kleine Truppe hat ihre Kontakte im Stadtteil genutzt, die ein ortsfremder Soziologe nicht hätte, und schließlich erreicht, auch mit Murad* beim Kaffee zusammen zu sitzen. Murad, der freimütig zugibt, selbst schon krumme Dinger gedreht zu haben. Früher, versteht sich. Aber auch mit Arzu, die Schulsprecherin in einem Oberstufenzentrum ist, und mit Yasar, der in einer Weiterbildung steckt: Die Jugendlichen, die nie vom „Soldiner Kiez", sondern vom „Wedding" sprechen, beschreiben diesen als einen armen, lauten Bezirk, in dem man immer die gleichen Leute trifft. „Die erkennt man schon von weitem an ihrem Geschrei: Ey, wow, was machst du so?" Man geht ins Freibad, raucht Wasserpfeife, kreuzt auf der Straße herum, pflegt Freundschaften. Freundschaften, Treue, Respekt sind das Wichtigste. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt. Für die Jungen ebenso wie für die Mädchen.

„Gangs", sagen sie, gebe es längst nicht mehr. Die seien im Wedding passé. Im bürgerlicheren Reinickendorf sei noch eine Gang aktiv ­ die „Klicksboys", mit denen man manchmal Ärger habe. Was den Wedding anbelangt, so erzählen sie von Cliquen von fünf, sechs Leuten, die herumzögen und „Scheiße im Kopf haben". Diebstahl, Hehlerei, Drogenhandel ­ klar gibt es das.

Kilian findet das nicht alarmierend: „Ein Unterschichtsbezirk ohne Kleinkriminelle ist genauso undenkbar wie ein Villenviertel ohne Steuerhinterzieher", sagt er. Die Kiezforscher überraschte weniger die Kriminalität, von der ihnen berichtet wurde, als die Rolle, die sie in der Phantasie der Jugendlichen spielt. Daß ein „Gangstakult" stilprägend ist, zeigte sich spätestens, als der Weddinger Gangstarapper Massiv ­ ein korpulenter, über und über tätowierter Junge aus Gaza ­ auf dem Leopoldplatz ein Video drehen wollte und von freiwilligen Statisten förmlich überrannt wurde. Und sein „Ghettolied" von Dealerei und Selbstbehauptung in kürzester Zeit einen Smashhit als Handyklingelton landete.

„Bei diesem Gangstakult geht es nicht um Rebellion, wie ich als Vertreter der 80er-Jahre-Generation vielleicht erwartet hätte," sagt Kilian, „es geht um die vorgelebte Teilnahme am Konsum." Denn wer nicht konsumiert, wird nicht geachtet. Und das merkt man bald, wenn man in einer Gegend lebt, in der sich die meisten keinen Restaurantbesuch leisten können. „Die mit den dicken Potten (Geldbörsen)", nennt Tarek die kleinen Kiezganoven mit einer Mischung aus Schauer, Ekel und Bewunderung. Die mit den scharfen Wagen. Die einzigen, die man kennt, die Kohle haben. Die „laufen wie die Könige", wie Murad sagt.

Sie sind keine Rebellen. Nicht im Ansatz. In fast tragikkomischem Widerspruch zu den Gangstaattitüden stehen die Lebensträume der Jugendlichen. Hanadi war vor kurzem mit einer Freundin in Frohnau. Sie wünscht sich, später einmal selbst in einer „Kleine-Häuser-Gegend" leben zu können. Murad, der verliebt ist und bald heiraten möchte, träumt von Reinickendorf ­ weil es dort „ruhiger" wäre. „Ruhig" ist das beliebteste Adjektiv, wenn es darum geht, den Sehnsuchtsort für ein späteres Leben zu beschreiben. Und „normal", wenn es um den Lebensstil geht. Die Familie wird geschätzt, selbst will man möglichst bald eine eigene gründen. Promiskuität wird durchweg abgelehnt, und es wird kritisiert, daß die Mädchen in Bezirken wie Kreuzberg zu lockere Sitten pflegten. „Normalität" will man auch im Beruf. „Mein Vorbild ist mein Bruder", sagt Yasar, „der hat es zum Elektriker gebracht.". Murad will einen „normalen Beruf", mit dem er 1200 Euro verdient, und sich also eine Menge zurücklegen kann. „Ich würde gern Rechtsanwalt werden," sagt Said, „weiß aber, daß ich nicht mal Koch werden darf." Also, fügt er drohend hinzu, „werde ich wahrscheinlich S¸ehit (Märtyrer)."

Das Eigenartige an diesen Jugendlichen ist, daß ihre Styles und Attitüden, die sie im wirklichen Leben pflegen, stark an eine Traumwelt erinnern. Wenn Massiv in seinem Video in einer Limousine durch den Wedding fährt, blickt er cool und stolz in die Menge, ganz wie ein dicker, huldvoller König. Seine schweren Goldketten zeigt er wie Schätze. Die Jungs imitieren das Goldkettengehabe und die Gebärden, die Mädchen tragen rosa Schleier, als wollten sie die passenden Prinzessinnen sein. Fragt man diese Jugendlichen aber nach ihren Träumen, klingen diese so, wie sich bei einem Mittelstandskind die Beschreibung einer ziemlich tristen Realität anhören würde. Berufwünsche wie „Elektriker mit einer Festanstellung bei Siemens" haben plötzlich einen Klang wie etwas Teures, das zugleich völlig unerreichbar ist. Murad und Yasar und Said drehen nach ihren Schulabschlüssen endlose Runden in sogenannten Maßnahmen, die vorgeben, auf den Beruf vorzubereiten. Es entsteht eine Blase, in der das Ghetto-Gangsta-Muskelspiel gegenwärtiger und relevanter wird als ein Fernziel: Normalität, ruhig wohnen, in den Urlaub fahren können. So kann es passieren, daß einer im Kiez den „Gangsta" markiert, der eigentlich nur ein Klempner werden wollte.

Tina Veihelmann

* alle Namen der Jugendlichen von der Redaktion geändert

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 10 - 2006 © scheinschlag 2006