Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Mit Anabolika ins vordere Mittelfeld

Die Gefahren des Doping werden von Amateursportlern unterschätzt

Beim Blick auf den Laborbefund blankes Entsetzen. „Sie haben Leberwerte wie ein Alkoholiker", versucht der diensthabende Arzt in der Notaufnahme der Charité dem Laien zu erklären. Vergeblich. Der 20jährige Riese grinst ihn nur an. Er spielt lieber mit seinen Muskeln, als sein Köpfchen zu bemühen. Er habe die jüngste Anabolikakur wohl nicht so gut vertragen, meint er wortkarg.

Schneller, höher, weiter: Das gilt auch für Hobbysportler. Inzwischen, so schätzen Experten, ist jeder fünfte Amateur-Athlet in Deutschland gedopt. Doping im Breitensport ist fast ein größeres Problem als im Spitzensport, wo ­ vergleichsweise ­ wenige leistungsfördernde Mittel einnehmen. Die Bodybuilderszene ist fürs Doping berüchtigt. Größer und schneller sollen die Beulen an den richtigen Stellen wachsen, den Profis wird nachgeeifert. Auch beim Griff in die medikamentöse Trickkiste. Die Vorbilder nehmen Anabolika mit der Substanz Tetrahydrogestrinon, weil es bisher in Dopingkontrollen nicht nachgewiesen werden konnte. Die Hobby-Bodybuilder machen es nach, obwohl es schlechter wirkt als anderes. Und noch gesundheitsschädlicher ist.

Die Tatsache, daß es keine Kontrollen im Breitensport gibt, macht die Diskussion schwierig. Experten sind jedoch alarmiert, weil inzwischen auch viele Jugendliche für einen muskulösen Körper zu Anabolika greifen. Sie wollen ohne viel Aufwand und in kurzer Zeit einen Körper ihrer Wünsche züchten. „Es gibt immer mehr Jugendliche, die schon mit 14, manchmal sogar mit zwölf Jahren Pillen schlucken und sich Spritzen setzen, um dickere Arme zu bekommen", sagt der Ex-Bodybuilder und Gründer einer Anti-Doping-Initiative, Jörg Börjesson. Bei jungen Bodybuildern würden zunehmend Kardiomyopathien, Leberschäden und schwere Persönlichkeitsveränderungen beobachtet. Über den auffallend schnell wachsenden Bizeps ihrer Söhne machen sich offenbar viele Eltern keine Gedanken. Sie sind froh, daß ihr Junge nicht auf der Straße herumhängt und vermeintlich etwas für seine Gesundheit tut.

Der Mediziner Carsten Boos von der Universität Lübeck hat in Deutschland die bislang einzige wissenschaftliche Studie über Doping im Freizeitsport vorgelegt. Sein Fazit: „Bei vorsichtiger Schätzung gibt es bundesweit rund 200000 Breitensportler, die mit Anabolika oder anderen Substanzen Mißbrauch betreiben." Boos beklagt ein „mangelndes öffentliches Interesse", das Thema anzugehen. „Die Empfindlichkeiten sind immens."

Es ist nicht einmal schwierig, an Dopingmittel heranzukommen. Es gibt einige schwarze Schafe in Arztpraxen, die Rezepte ausstellen, und in Fitneßstudios, die Anabolika verkaufen. Besonders beliebter Marktplatz zum Shoppen für überambitionierte Freizeitsportler: das Internet. Mit Öffnung der Grenzen Osteuropas kam es in Deutschland zu einer Explosion des Anabolika-Schwarzmarktes, wobei Etikettenschwindel an der Tagesordnung ist. Die Arzneimittelfälschungen sind von den Original-Präparaten äußerlich kaum zu unterscheiden. Nach Schätzungen von Börjesson werden auf dem deutschen Schwarzmarkt 100 Millionen Euro jährlich für Anabolika, Antiöstrogene, Choriongonadotrophin, Tyroxinpräparate und ähnliches ausgegeben. Die Preise schwanken: Eine Amphetamin-Tablette ist für einen Euro zu bekommen, Wachstumshormonpillen kosten bis zu 30 Euro. Der illegale Handel ist ein Riesengeschäft. Es gibt Händler, die einfach in die Türkei oder nach Griechenland fliegen, sich dort in Apotheken billig eindecken und wieder zurückfliegen. Auch aus Spanien, der Schweiz, Osteuropa oder Thailand werden verbotene Substanzen eingeschmuggelt.

Neben anabolen Steroiden benutzen Sportler in zunehmendem Maße Wachstumshormone, Insulin und weiteres ­ oft in horrender Dosierung. Die möglichen Folgen: Gerade in der Wachstumsphase bringen Substanzen wie Clenbuterol, Nandrolon, Wachstumshormone oder Testosteron-Präparate den Hormonhaushalt durcheinander. Gemütsschwankungen mit depressiven und aggressiven Phasen treten häufig auf. Bei der Nationalen Anti-Doping-Agentur (Nada) sieht man vor allem gesellschaftliche Ursachen: Der Körperkult sei aus den Medien in den Breitensport hinübergeschwappt. Es würde ein Körperbild transportiert, das realitätsfern sei und dem Einzelnen nahelege, daß man an sich etwas ändern müsse ­ ähnlich wie bei Schönheitsoperationen. Zudem hätten Breitensportler keine ausgebildeten Trainer: So erkennten viele ihre Leistungsgrenze nicht oder sie ignorierten sie.

Bedenken wegen der eigenen Gesundheit oder gar Unrechtsbewußtsein scheinen bei vielen Amateurathleten immer mehr abzunehmen. Anfragen, wie man die „Form aus gegebenem Anlaß illegal verbessern" kann, werden im Netz mit aller Selbstverständlichkeit beantwortet. Auch gewöhnliche Medikamente wie Aspirin werden als Schmerzmittel mißbraucht, um Schmerzen während eines Wettkampfs zu dämpfen. Das Blut verdünnt sich und kann schneller transportiert werden. Was viele nicht wissen: Bei der Einnahme mehrerer Aspirin ­ womöglich noch kurz vor dem Start ­ verdünnt sich das Blut dermaßen, daß es im Falle eines Sturzes unnachgiebig fließt, selbst Kompressen können es dann nicht stoppen.

Doch in den meisten Foren äußern sich viele auch mit Unverständnis zu dem zunehmenden Medikamentenmißbrauch: „EPO und Wachstumshormone wahrscheinlich eher weniger, schnell eine Voltaren oder einen ACE-Stack vor dem Wettkampf, finden viele AK Athleten ziemlich normal. Ist meine Erfahrung von etlichen Volksläufen. Die Jungs in der AK 60 +/- sind manchmal gnadenlos ehrgeizig. Da geht's eigentlich um nichts, außer um die Erwähnung im Ortsblatt."

Wie dieser Beitrag auf 3athlet.com richtig bemerkt: Die Breitensportler werden dadurch natürlich keine Spitzensportler. Das einzige, was sie erreichen könnten, ist zum Beispiel, vom hinteren Mittelfeld ins vordere zu gelangen.

Sonja John

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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