Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Ende der Scheintotenstarre

Der neue Intendant Armin Petras trimmt das Maxim Gorki Theater auf Tempo

Foto: Bettina Stöß

Binnen drei Jahren berühmt oder tot: So lautete 1992 die Wahl, vor die sich Frank Castorf bei seiner (freundlichen) Übernahme der Volksbühne seitens des Senats ganz explizit gestellt sah. Castorf hat sich für die Berühmtheit entschieden, der Rest ist Geschichte. Seitdem hat sich einiges in der Berliner Theaterlandschaft getan. Vor allem hat sich die freie Szene mit den Spielstätten Sophiensæle und Hebbel am Ufer institutionalisiert und so sowohl dem Stadttheater als auch der Volksbühnenästhetik den Rang abgelaufen. Geblieben aber ist die mörderische Alternative: berühmt oder tot. Über den berühmt gewordenen Ensembles (Sasha Waltz, Thomas Ostermeier, Nico and the Navigators u.a.) sollte man nicht vergessen, daß Theater geschlossen wurden (Schiller Theater, Berliner Kammerspiele) oder von der Schließung bedroht sind (nicht zuletzt einige Off-Bühnen und Privattheater, aber z.B. auch die Deutsche Oper, die allem Anschein nach sehr aktiv bei ihrer Selbstabschaffung mittut).

Ein Theater, das sich dieser Alternative bislang beharrlich zu entziehen suchte, war das Maxim Gorki Theater: Berühmt wurde es allenfalls, als Harald Juhnke dort den Hauptmann von Köpenick spielte, in der Regel aber dümpelte es wie scheintot vor sich hin, gleichwohl stand seine Schließung nie ernstlich zur Debatte. Zuletzt gestaltete dort Volker Hesse einen politisch ambitionierten, künstlerisch aber überwiegend glücklosen Spielplan. Das soll nun anders werden. Mit Beginn dieser Spielzeit hat der Regisseur Armin Petras das Amt des Intendanten übernommen, und offensichtlich ist er gewillt, das Gorki in Rekordzeit zur Berühmtheit zu führen ­ allein im ersten Monat hat sein Ensemble 16 Premieren gestemmt. Den Ehrentitel „Schnellstes Stadttheater der Welt" hat Petras so zumindest schon in der Tasche. Der neue Hausherr kann bei seinem rasanten Produzieren auf ein eingeschworenes und nur 19 Schauspieler zählendes Ensemble setzen, das mit ihm ­ zum Teil seit Jahren und von Frankfurt/ Oder bis Frankfurt/Main ­ durch dick und dünn geht; mit Fritzi Haberlandt ist sogar ein veritabler Star darunter. Und was das Beste ist: Trotz (oder wegen) des hohen Tempos sind die bisherigen Ergebnisse höchst ansehnlich. Und kurzweilig. Und kurz. Länger als anderthalb, zwei Stunden zwingen Petras und die Seinen ihr Publikum nicht in die Sitze.

Die ersten zehn Produktionen gingen bereits beim zweitägigen Eröffnungsspektakel Spuren.Suche über die Bühne und bilden nun eine Art Repertoire-Reservoir. Gleich zum Auftakt wurde deutlich, daß Petras lokale Bezüge sucht (mit Stücken wie Berlin ein Meer des Friedens, Berliner Verhältnisse) und daß er in einer Stadt, die einer immerwährenden Baustelle gleicht, das Bauen als grundlegende Metapher setzt. Und so wählte sich der Regisseur Petras zum Start Ibsens Baumeister Solness, den er witzig mit einer Stadt- und Baugeschichte Berlins im Schnellstdurchlauf von der Steinzeit bis heute beginnen läßt. Das Berlin der Zukunft wird dann augenscheinlich in dem von Solness geleiteten Architekturbüro entworfen, in dem ab und an bizarre Pappmodelle herumgetragen und besichtigt werden. Diese eigenartigen Visionen möchte der junge aufstrebende Architekt Ragnar Brovik (Peter Moltzen) realisieren, doch hierzu muß er erst an dem renommierten Solness vorbei.

Der wird von Peter Kurth gespielt, und zwar so, daß man an ihm nur schlecht vorbeikommt: Sein wuchtiger Körper steht und steht ­ Kurth kann sehr kunstvoll stehen! ­, mit dem Recht der Masse beansprucht er Raum und behauptet so, obwohl längst ausgebrannt, die Macht. Um ihn herum tobt das Künstlermilieu samt sexhungriger Frauen, die an ihm, dem von der midlife crisis Gebeutelten, abprallen. Selbst Hilde Wangel, eine junge Frau, die er vor Jahren als Minderjährige verführte, arbeitet sich jetzt vergeblich an diesem Klotz ab. Und das, obwohl Anja Schneider die Wangel mit einer Energie ohnegleichen ausstattet: Sie rennt förmlich gegen Solness an, ringt mit ihm und fordert ­ mal Xanthippe, mal kleines Mädchen ­, was sie vermeint, daß ihr, dem Mißbrauchsopfer, zustehe: ein Königreich. Das aber ist nicht zu haben. Baumeister Solness wirkt bei Petras völlig staubfrei, in der luftigen Balkenkonstruktion der Bühne (Susanne Schuboth) ist aller Muff der Ibsenschen Bürger-Wohnzimmer längst entwichen.

In einer nur halbstündigen Kurzproduktion zeigte Petras einen verwandten Baumeister in einem gänzlich anderen Milieu – einen Thüringer Maurer, der sich sein Königreich bereits erbaut hat: ein eigenes Haus. Doch mit der Erfüllung des Traums kommt auch bei ihm die Leere, der Mann vermag sich nicht noch einmal neu zu erfinden. Nach der Entfremdung von Frau und Sohn zündet er sein Lebenswerk schließlich an, stellt sich selbst unter einen Bauaufzug mit einer Ladung Ziegelsteinen und macht die Hebelsicherung los. Bei Das Haus, einer vor 25 Jahren geschriebenen Erzählung Einar Schleefs, die Petras nun zur Uraufführung brachte, sitzt das Publikum auf dem Parkplatz des Gorki Theaters und verfolgt, wie sich der Schauspieler Andreas Leupold per Skylifter auf das Dach eines Nebengebäudes hievt, um dort von einem aus Ziegelsteinen improvisierten Rednerpult aus seine Geschichte zum Besten zu geben. Dem fröhlich selbstbewußten Beginn, den Leupold einer Betriebsfeiern-Ansprache ähneln läßt, folgt die zunehmende Verstrickung in die persönliche Krise. Zum tödlichen Ende spielen Musikstudenten die Bach-Arie „Ich habe genug". So präzise Leupold und Petras den Ton der kurzatmigen Prosa Schleefs treffen, so schlicht und ergreifend ist auch die Bebilderung in ihrer räumlichen Monumentalität mit Kran und Dach – eine so eindringliche halbe Stunde findet sich auf Berliner Stadttheater-Bühnen nicht sehr häufig.

Mit Die Leiden des jungen Werther in der Regie von Jan Bosse hat sich Intendant Petras auch noch eine Inszenierung beschert, die das Zeug zum Dauerbrenner hat: Hans Löw spricht den Werther-Text so hinreißend unangestrengt und heutig (was ihm nicht zuletzt durch wohldosierte „ja, ... ja?"-Interjektionen gelingt), Fritzi Haberlandt ist eine so hinreißend girliehafte Lotte und Ronald Kukulies ihr so hinreißend proletarischer Verlobter, daß man die auf den Erfolg schielende Machart des Abends gern vergißt.

Daß sich bei 16 Premieren auch der ein oder andere Flop einschlich, ist nur natürlich. Trotzdem: Bei dem jetzigen Tempo kämpft das Gorki um die pole position der Berliner Theaterszene ­ oder es fährt mit 180 gegen die Wand. Berühmt oder tot? Man wird sehen. Mit der Scheintotenstarre des Gorki Theaters ist es jedenfalls vorerst vorbei.

Raoul Golwenberg

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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