Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

„Ich bin nicht Nancy Sinatra"

Westberliner Avantgarde heute: Blixa Bargeld in der französischen Provinz

P. bedeutet nicht Paris, so sehr das auch zu wünschen wäre. Gemeint ist damit lediglich eine kleine Stadt in der französischen Provinz, groß genug für eine Universität und eine Ingenieurfachschule. Immerhin. Eher bekannt jedoch ist sie für ihre Kathedrale, den Prozeß gegen Jeanne d'Arc und als Geburtsort von Michel Foucault. Aber B.B. meint auch nicht Birgitte Bardot, sondern einen Herrn.

Fällt der Name Einstürzende Neubauten, ist man im Bilde: Herr Bargeld präsentierte dort seine Klangperformance Rede/Speech. Dafür, daß er seit knapp elf Jahren daran übt, blieb sie im Detail stellenweise etwas ungeschliffen, doch war der Gesamteindruck nicht der schlechteste. Die evozierte Atmosphäre stimmte, und deren Eindrücklichkeit hätte nur in der dunklen, besagten Kathedrale mit ein paar kerzentragenden Gestalten in Mönchskutte übertroffen werden können. Glaubt man Bargeld selbst, handelt es sich um „Metamorphosen von Sätzen, Worten und Silben zu akustischen Architekturen, tönenden Sphären und kakophonischen Monstren." Letztere waren es dann auch wahrscheinlich, die den Franzosen neben mir sich ab und an die Ohren zuhalten ließen. Doch B.B. ließ sich nicht beeindrucken und begeisterte die restlichen Zuhörer, die sich sogar zu Zwischenrufen hinreißen ließen. Sein Kommentar: Er sei nicht Nancy Sinatra.

Wenn Bargeld behauptet und insistiert, es ginge an „die Grenzen von Sprache und Musik", so ist das nicht nur terminologisch ungenau, sondern auch krude. Denn was als Sprache beschworen wird, ist lediglich Stimme, die Worte beliebig ersetzbar. Ein etwas tieferer medienarchäologischer Blick sieht, was B.B. unterschlägt: den digitalen Speicher. Ohne diesen wäre solche Ad-hoc-Speicherung von Stimme, deren Sampling und sofortige Wiedergabe nicht möglich. Die Effektgeräte sind dann nur noch Appendix, ebenso wie Boris Wilsdorf, der die Regler zieht und das Ganze synchron abmischt. Was Bargeld „Grenzen" nennt, ist das, was Hardware-Entwickler als RAM in die Geräte packten und ab Mitte der Achtziger breiten Käuferschichten zugänglich machten, d.h. die „Grenzen" öffneten. Das ermöglicht ihm auch, ohne die Neubauten auszukommen und seinen pathetisch „Konzertreise" genannten Ausflug en France mit seiner großbebrillten, managenden und abweisenden Begleitung (fast) allein zu gestalten. Es stimmt schon etwas traurig, daß Berliner Avantgarde von einst inzwischen über die Dörfer tingelt.

Am besten wäre, wenn Kunst gleich ganz ohne Künstler auskäme. Der Kunstgenuß bliebe rein, und uns die Götzendämmerung erspart. B.B.s Ringen um Pathos hat etwas Wagnerianisches, leider im negativen Sinne. Das scheint allerdings zum einstigen Avantgarde-Helden zu gehören wie sein inzwischen stattliches Doppelkinn. Anzug mit Weste unterstreichen dabei noch die Zugehörigkeit zum Bürgertum, wo seine Performance sie desavouieren und es provozieren möchte. Vielleicht. Charmanterweise hat er sich jedenfalls einige wenige, für sein Programm notwendige Vokabeln auf Französisch angeeignet. Dabei ist ihm allerdings entgangen, daß es la lune und nicht der Mond heißt. Nobody is perfect. Leider. Zum Glück spricht er fließend Italienisch. Etwa ebenso wie Englisch. Die Franzosen werden es wohlwollend registriert haben.

Hans Bellonio

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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