Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1906

2. bis 29. November

Nicht nur in der Berliner Presse wird der falsche Hauptmann von Köpenick und sein Geniestreich erörtert, sondern auch in der Kölnischen Zeitung: „Die Berliner sind geradezu stolz auf ihn, und wenn der geniale Gauner, der ihn ausgeführt hat, heute oder morgen verhaftet werden sollte, so wird das von den meisten mit ausgesprochenem Bedauern vernommen werden. Der Streich ist von einer so wilden Verwegenheit und mit einer so unerschütterlichen Ruhe ausgeführt worden, daß man, namentlich da er geglückt ist, sich kaum enthalten kann, mit dem Urheber – der heute unzweifelhaft die größte Tagesberühmtheit der Welt ist und Millionen in herzliche Heiterkeit versetzt hat – eine, wenn auch etwas lasterhafte, so doch nicht unerklärliche Sympathie zu fühlen."

Die Deutsche Tageszeitung höhnt: „Man faßt sich an den Kopf: ob man wache oder träume? Köpenick liegt doch dicht vor den Toren Berlins und nicht in den Abruzzen oder im russischen Aufruhrgebiet! Wir schreiben das Jahr 6 im aufgeklärten 20. Jahrhundert. Die Köpenicker werden noch lange an ihrem Malheur zu tragen haben. Und wirklich: Man kann kaum Mitleid mit ihnen haben. Sie haben sich düpieren lassen ­ man ist verlegen um einen Vergleich, denn es gibt keinen Vergleich."

Doch schon in der Abendausgabe vom selben Tag distanziert sich das Blatt von linken Strömungen: „Einige liberale und sozialdemokratische Blätter machen sich das wohlfeile, aber sehr zweifelhafte Vergnügen, den Köpenicker Gaunerstreich auf das Konto des Militarismus zu setzen. Sie meinen, daß er unmöglich gewesen sein würde, wenn einerseits unsere Soldaten nicht zum sklavischen Gehorsam erzogen würden und wenn andererseits nicht das gesamte Bürgertum in demütigem Knechtssinne vor der Uniform und ihren Trägern erstürbe. Wir meinen, daß diese Auffassung und Ausnützung des Falles durchaus verfehlt sei. Mit dem Militarismus hat die Komödie von Köpenick verzweifelt wenig zu tun. Schuld daran, daß der Gaunerstreich so gelang, trägt allein die unbegreifliche, teils lächerliche, teils beklagenswerte Kopflosigkeit der Beteiligten."

Die Germania fürchtet ebenfalls die Sozialdemokratie: „Was könnte aus dem blinden, unbedingten Gehorsam der Soldaten nicht für Unheil entstehen? Wie, wenn Sozialdemokraten oder Anarchisten das nachmachten, wenn Singer sich in Generalsuniform oder Bebel sich in Majorsuniform würfe und eine Abteilung ihn begegnender Soldaten ins Schloß führte? Das klang ehedem paradox und schien nur in Rußland möglich. Aber nachdem elf Mann einem als Hauptmann verkleideten Gauner, der nicht einmal vorschriftsmäßig angezogen war, von Berlin nach Köpenick folgten und dort den Bürgermeister verhafteten, erscheint auch bei uns das durchaus nicht so unmöglich."

Selbst internationale Zeitungen nehmen Anteil an den Geschehnissen, Le Petit Parisien schreibt unter der Überschrift „Le Fétichisme en Allemagne": „Wenn man diese amüsante Geschichte erfährt, beginnt man zu lachen; dann aber, beim Nachdenken, bemerkt man, daß dieser deutsche Fetischismus der Offizierpauletten erschreckend ist. Wenn ein Unbekannter, als Hauptmann verkleidet, über die Streitkräfte verfügen kann, was könnte dann erst ein General tun? Tapfere deutsche Soldaten, treue Gendarmen, scharfsichtige Polizeibeamte zögerten nicht, dem ersten besten zu gehorchen, der eine Offiziersuniform trug und ihnen befahl, Verhaftungen vorzunehmen. Da sieht man, wohin der übertriebene Unteroffiziersgeist führt, dem Deutschland seit so vielen Jahren untergeordnet ist und der das Land Goethes und Schillers in eine Kaserne verwandelte."

Die Londoner Tribune bezweifelt gar, daß der Täter überhaupt ein Dieb war: „Er war vielmehr als politischer Philosoph darüber erschreckt, daß in Deutschland die persönliche Regierung so weit reicht, und wollte nur eine Probe aufs Exempel machen. Die Soldaten sind einfache Automaten, die gehorchen; würden sie nicht jedem Befehl eines Uniformierten folgen?"

Die Krakauer Glos Narodu schreibt: „Die ganze deutsche Kultur der Gegenwart unterliegt militärischen Einflüssen, diesen gegenüber schweigt die Humanität." Für Göteborgs Handelstidning ist die Tat ein unvergleichliches Meisterstück: „Das gute Gelächter, das er der ganzen Welt geschenkt hat, ist billig bezahlt mit den 4000 Mark."

Falko Hennig

Radio Hochsee Themenabend Otto Reutter mit Helga Bemmann am 22. November, 20.30 Uhr, Kaffee Burger.

Weitere Informationen unter

www.Falko-Hennig.de

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