Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Ab durch die Mitte

Berliner U-Bahnlinien (VI): die U2

Die U2, das muß leider gesagt werden, ist hochgradig schizophren. An ihren beiden Enden Ruhleben und Pankow ist sie eine beschauliche, kleine Pendlerlinie. Die Passagiere sind Schüler und Berufspendler in den Stoßzeiten und außerhalb meist Rentner, die gerne U-Bahn fahren. Trifft man zwischen Ernst-Reuter-Platz und Ruhleben Menschen, von denen man annimmt, daß sie keine Berliner sind, so sollte man ihnen Hilfe anbieten, denn sie haben sich mit Sicherheit verfahren. Wer zwischen Pankow und Alexanderplatz mit der U2 fährt, hat wahrscheinlich die Tramhaltestelle nicht gefunden.

Wie anders zwischen Alexanderplatz und Bahnhof Zoo: Vom Kaufrausch getriebene Menschenmassen aus ganz Deutschland und der ganzen Welt hieven prallgefüllte Einkaufstüten in die Waggons, sofort bilden sich Menschentrauben unter den Linienplänen, wo heftig über das weitere Vorgehen diskutiert wird. „Wollen wir als nächstes ins KaDeWe (Wittenbergplatz), zum Potsdamer Platz, oder in die Friedrichstraße (Stadtmitte)?" Der Streckenabschnitt zwischen Alex und Zoo nimmt wohl in sämtlichen Berlinführern einen prominenten Platz unter der Rubrik „Shopping" ein.

Diese ohnehin chaotische Situation wird durch den momentanen Umbau noch verschärft, am Potsdamer Platz und am Gleisdreieck muß umgestiegen werden. Wer, wie der Autor, Freude am Slapstick hat, der möge sich einmal für ein, zwei Stunden auf dem U2-Bahnsteig am Potsdamer Platz aufhalten und dort das Feuerwerk an Reality-Sketchen genießen. Was man nämlich wissen muß, ist, daß dort die Bahnen sowohl nach Ruhleben als auch nach Pankow vom selben Gleis fahren. Der Zug vom Gleisdreieck fährt also ein, die Fahrgäste werden per Durchsage gewarnt, daß sie auf die Anzeigen zu achten hätten, sie purzeln aus der Bahn überqueren in Panik den Bahnsteig, drängen sich in die dort gerade zur Abfahrt blinkende U-Bahn und brausen wieder zurück zum Gleisdreieck. Man möchte sich nicht ausmalen, wie lange auf diese Weise unbedarfte Touristen in diesem BVG-Dimensionsloch gefangen bleiben.

Szenen wie diese spielen sich vor einem äußerst dankbaren Publikum ab. Für die Zeit des Umbaus hat die BVG bis zu sechs Mitarbeiter auf dem Bahnhof Potsdamer Platz postiert, die den verwirrten Besuchern helfen sollen. Im verrauchten Mitarbeiter-Häuschen auf dem Bahnsteig herrscht ausgelassene Stimmung, Auskünfte werden geduldig, aber mit kaum verborgener Häme erteilt.

Abgesehen von diesem Festmahl für Schadenfrohe bietet die U2 noch mehr für Menschen mit abartigen Neigun-gen. U-Bahn-Fetischisten, so genannte „Pufferküsser", erfreuen sich daran, daß auf der U2 die letzen Züge aus DDR-Produktion verkehren, die Bahnen der Baureihe GI, von ihren Verehrern liebevoll „Gisela" genannt. Menschen, die sich für Derartiges interessieren (und es gibt davon mehr, als man vermuten würde), erkennt man daran, daß sie sich in Höhe des U-Bahnhofs Olympiastadion auf die rechte Seite drängen, wenn die U2 wieder an die Oberfläche kommt, um die dort parkenden Schienenwartungsfahrzeuge und die U-Bahnwerkstätten zu bewundern. Solche Leute steigen dann auch am Olympiastadion aus, um ins U-Bahnmuseum zu gehen. Freunde der U-Bahnhofarchitektur lieben die U2 ebenfalls, denn sie durchfährt einige bemerkenswerte Bahnhöfe. Am bemerkenswertesten sind dabei wohl die Bahnhöfe Mohrenstraße, dessen häßlicher roter Marmor aus Hitlers Reichskanzlei stammt, der U-Bahnhof Klosterstraße, der von gelblichen Lampen in ein seltsam diffuses Licht getaucht wird, und nicht zuletzt der relativ neue Bahnhof Pankow, den Kenner wegen seiner eleganten Lichtbahnen für den schönsten U-Bahnhof Berlins halten. Außerdem gibt es da noch die Sprayer, die in den U-Bahn-Schächten relativ ungefährdet ihrer Kunst nachgehen können, denn die Tunnel sind an einigen Stellen, vor allem um den Alexanderplatz, mindestens genauso geräumig wie die Bahnhöfe.

Die U2 muß man also lieben für ihre vielen Eigenarten und Skurrilitäten. Was sie aber für Berliner so sympathisch macht, ist die Tatsache, daß man sie nicht benutzen muß, da es für jeden Streckenabschnitt wenigstens eine echte Alternative gibt.

Moritz Feichtinger

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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