Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Leserbrief: Zu den Artikeln „Keine Politik des kleineren Übels, die in erster Linie zu Übel führt" und „Wenn der Idealismus erste Abnutzungserscheinungen zeigt" im scheinschlag 8/06

Benno Kirschs breitausgelegte Ablehnung der Berliner WASG wäre sicherlich noch interessanter gewesen, wenn der Autor sich etwas mehr mit dem Thema auseinandergesetzt hätte, statt seine schon vorhandene Meinung größtenteils unbegründet wiederzugeben.

Kirsch behauptet einfach, daß alle, die ins Parlament einziehen, ihre Gepflogenheiten „ganz automatisch und unausweichlich" anpassen. Abgesehen davon, daß die Wahlalternative ja gar nicht mit dem Ziel zur Wahl angetreten ist, die „Gepflogenheiten" des Abgeordnetenhauses zu ändern, sondern die soziale Lage in dieser Stadt, und die Strukturen, die das aktuelle politische System anbietet, dafür zu nutzen, liegt es eher an der Partei und an den Menschen, die gewählt werden, und aus welchen Gründen, ob eine „Anpassung" „automatisch" ist. Dabei ist aber meines Erachtens nichts, was vorbestimmt und „automatisch" sein muß.

„Wer kann noch nein sagen?", wenn Pöstchen verteilt werden und die Lobbyisten klingeln, will Kirsch wissen. Eine einfache Antwort: Menschen, die Prinzipien haben. Auch wenn die zahlreichen Auftritte von WASG-Spitzenkandidatin Lucy Redler mich nicht wirklich davon überzeugten, daß sie die geeignete Person sei, soziale Kämpfe in Berlin zu bündeln und auszuweiten, habe ich nicht den Eindruck gehabt, sie wäre nur im politischen Geschehen involviert wegen einer möglichen finanziellen Belohnung oder dem bescheidenen „Ruhm" einiger Auftritte in der rbb-Abendschau. Frau Redler scheint mir talentiert genug zu sein, viel einfacher an Geld zu kommen ­ aber letztendlich ist sie vermutlich, als Revolutionärin und „Unkenruferin", gar nicht an der Kohle interessiert. Dasselbe würde ich auch für ihre Listenkollegen aus verschiedenen sozialen Bewegungen behaupten.

Es wird als Tatsache dargestellt, daß Parteien, die zu Parlamentswahlen antreten, sich „im Erfolgsfalle der dort herrschenden Rationalität anpassen" ­ sowie, daß man im „täglichen Leben" „eher weiter kommt, wenn man Kompromisse eingeht". Kirsch informiert uns, daß es „nicht bekannt" ist, ob die WASG Berlin sich mit dieser Frage auseinandergesetzt hat („gar nicht", vermutet er). Er hätte z.B. die Landesvorsitzende fragen können. Sie hätte ihm vielleicht über verschiedene Fälle aus der Geschichte der parlamentarischen Demokratie erzählt, wo Stadträte und Abgeordnete irrational genug waren, ihre Wähler zu vertreten, ungeachtet angeblicher Sachzwänge. In einem mir bekannten Fall (zugegeben: nicht in Deutschland) gingen 30 Stadträte (keineswegs Revolutionäre) lieber ins Gefängnis, statt öffentliche Dienstleistungen für ihre städtische Wählerschaft zu kürzen. Dabei genossen sie die Unterstützung einer Massenbewegung ­ übrigens gewannen sie den Streit mit der Regierung ihres Landes, und die Bevölkerung des Stadtteils bekam Trinkwasser und Abwasserleitungen, die angeblich zu teuer waren.

Die Polemik sagt weniger über die WASG aus als über die Meinung des Schreibers. Das finde ich gar nicht so schlimm, vielmehr, daß diese als unausweichlicher Fakt dargestellt wird.

Gina Heijn

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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