Ausgabe 09 - 2006 berliner stadtzeitung
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„Und nächstes Jahr will ich Straßenweltmeister werden"

Der 18jährige Berliner Pierre Senska wird „Behinderten-Nachwuchssportler des Jahres 2006"

Der Sprintspezialist mit Muskelschwund wurde bei der Rad-WM der Behinderten im September Weltmeister im Olympischen Teamsprint, Vize-Weltmeister im Straßenrennen und im 1000-Meter-Zeitfahren auf der Bahn. Dieses Jahr bezwang er erstmals seinen härtesten Konkurrenten, Michael Teuber, und das gleich mehrfach. Seine Karriere fängt gerade an.

Seit wann betreibst du Radsport?

Seit fünf Jahren. Eigentlich wollte ich Fußball spielen. Aber es gab keinen Behindertenverein außer dem in Köpenick, aber der war mir zu weit weg. Eigentlich war Radsport meine zweite Wahl. Nun bin ich froh darüber. Mit meiner Behinderung geht das Radeln viel besser als das Kikken.

Bist du in einem Radverein für Behinderte?

Nein. Ich bin zum Marzahner SC gegangen, ein ganz normaler Sportverein. Da wurde ich gut aufgenommen. Da gab es nicht dieses: Guck Dir mal den Behinderten an, sondern: „Du willst Radfahren, also machst du mit." Das Training war am Anfang ziemlich schwer, weil die anderen viel stärker waren. Ich mußte immer beißen, um dran zu bleiben.

Haben sie auf dich gewartet?

Ja, klar. Das macht man unter Sportlern so. Wenn es nicht mehr ging, haben sie mich ins Auto genommen. (lacht) Wir trainierten viermal die Woche. Durchschnittlich ging mir an einem der Tage in der Woche die Kraft aus. Aber Nicht-Behinderte sind auch ins Auto gestiegen.

Hat dich das geärgert?

Im ersten Moment ist es vor allem erholsam. Bei Rennen steige ich aber nicht aus.

Du fährst bei normalen Radrennen mit.

Ja. Wegen meiner Behinderung kann ich in einer tieferen Klasse, also bei der Jugend statt den Junioren starten. Diese Wettkämpfe sind für die Entwicklung im Spitzenbereich total wichtig. Viele Behindertenrennen gibt es ja nicht. Nur mit denen würde ich nicht schnell werden.

Nun startest du aber für einen anderen Verein. Wieso der Wechsel?

2004 bin ich zum Berliner TSC gewechselt. Die Trainer kamen miteinander nicht mehr klar. In der Sprinttrainingsgruppe gab es interne Konflikte. Als mein Ex-Trainer Geld von mir wollte, war es für mich Zeit zu gehen. Der dachte, ich wäre auf ihn angewiesen. Seither trainiert mich Dagoma Richter. Er will kein Geld von mir. Und ist ein super Trainer.

Woran merkst du das?

Er hat schon mehrere Weltmeister und Olympiasieger produziert. Der andere Trainer hat mit mir nur Sprinttraining gemacht. Dago legt auch Wert auf Ausdauertraining. Seit ich bei ihm bin, habe ich mich über 1000 Meter um drei Sekunden verbessert! Und über 3000 Meter um sieben Sekunden!

Wann konntest du deine ersten Erfolge feiern?

Das war 2003 bei der Behinderten-DM. Ich belegte den dritten Platz über 1000 Meter in der LC3. Von den vier Schadensklassen ist das die zweitschlimmste. Mittlerweile wurde ich neu klassifiziert und bin nun in der LC4, der Klasse mit den schwersten Behinderungen.

Was für eine Behinderung hast du?

Seit meiner Geburt habe ich Muskelschwund an den Unterschenkeln. Das heißt, daß ich keine Wadenmuskeln habe. Und sich auch keine aufbauen. Trotz des vielen Trainings.

Wieviel trainierst du?

(blättert im Trainingsplan) Fünf bis sechs Mal die Woche. Im Sommer fahre ich fünf Tage die Woche Rad, einen Tag verbringe ich im Kraftraum. Jetzt im Winter sind wir nur noch am Wochenende auf dem Rad. Aber viel auf der Rolle und im Kraftraum.

Mit welchen Erwartungen bist du im September zur WM nach Aigle in die Schweiz gefahren?

Insgeheim habe ich mir eine Bronzemedaille über 1000 Meter auf der Bahn ausgerechnet. Letztes Jahr war ich Dritter. Der Vierte, ein Spanier, war nicht weit weg von mir. Deshalb hatte ich Angst, er sei dieses Jahr schneller als ich. Über die überraschende Silbermedaille über 1000 Meter habe ich mich sehr gefreut.

War die Straßenmedaille dann auch überraschend?

Total. Damit habe ich gar nicht gerechnet. Auf der Straße gibt es viele schnelle Konkurrenten. Nach acht Kilometern ist der Österreicher abgefahren, mit dem keiner gerechnet hatte. Wir haben ihn unterschätzt. Alle hatten ihr Augenmerk auf den Spanier, den Favoriten, gerichtet. Alle lauerten, warteten ab, bis der Spanier anfährt. Aber der hat nur blockiert. Michael Teuber und ich haben abwechselnd attackiert. Der Österreicher hatte mittlerweile eine Minute Vorsprung, an den kamen wir nicht mehr ran. In der letzten Runde habe ich an der letzten Steilen attackiert. Da ist nur der Spanier mitgekommen. Wir beide waren also weg. Ich habe ihn im Sprint abgezogen und damit die Silbermedaille gewonnen.

Dein größter Erfolg bei der diesjährigen ­ und deiner ersten ­ Rad-WM war der Weltmeistertitel im Teamsprint. Welches Ergebnis hattest du erwartet?

Als ich die Startliste gesehen habe, dachte ich, wenn wir Achter werden, sind wir gut. Viele Länder waren mit starken Fahrern dabei. Die Briten zum Beispiel sind Vollprofis. Der Spanier Ochoa ist vor fünf Jahren noch den Giro gefahren, vor seinem Unfall. Der bringt ganz andere Voraussetzungen mit als wir Amateure. Sein Körper ist auf Leistungssport getrimmt.

Wann hast du gemerkt, daß ihr Weltmeister werdet?

Der Teamsprint geht über drei Runden. Ich bin die erste Runde angefahren. Günni hat an Mario übergeben. Was wir werden, wußte ich erst, als ich die Zeit an der Tafel gesehen habe. Aber als ich gefahren bin, habe ich schon gemerkt, so schnell war ich noch nie. 19,7 Sekunden bin ich die erste 200-Meter-Runde gefahren.

Wieso wurden die Engländer disqualifiziert?

Sie haben einen Wechselfehler begangen. Wie im letzten Jahr auch, aber da wurden sie nur im Finale distanziert. Auf der Bahn gibt es eine Wechselmarke, die ist 50 Meter lang. Innerhalb dieser Markierungen muß der Wechsel vonstatten gehen. Das können die auch. Der erste Engländer ist zu früh rausgegangen. Dadurch verschaffte er sich einen Vorteil, weil der Mann auf der zweiten Position den Windschatten früher verlassen kann, bevor der Anfahrer an Schwung einbüßt. Im Finale sind wir gegen die Spanier gefahren. Wir waren zwei Sekunden schneller. Das ist viel auf 600 Metern.

Wie empfandest du die Bahn in Aigle, dem Sitz der UCI?

Die 200-Meter-Bahn ist sauschnell. Sonst trainiere ich hier im Berliner Velodrom. Die ist 50 Meter länger und hat einen anderen Kurvenradius. Dadurch fährt sie sich auch langsamer.

Was verändert sich nun für dich durch den WM-Titel?

Mehr Geld von der Sporthilfe. Ich kriege jetzt 145 Euro jeden Monat. Auf die Paralympischen Spiele in Peking 2008 kann ich mich damit nicht optimal vorbereiten, aber es hilft. Weitere Sponsoren haben sich leider noch nicht bei mir gemeldet. Am 29. September wurde mir die Auszeichnung „Behinderten-Nachwuchssportler des Jahres 2006" verliehen. Am Funkturm hat mir der Berliner Behinderten-Sportverband ein T-Shirt überreicht.

Welchen Stellenwert nimmt Radsport in deinem Leben ein?

Nach meiner Ausbildung ist es das Zweitwichtigste. Ich mache gerade eine Ausbildung zum Kaufmann im Groß- und Außenhandel. In diesem Projekt des Olympiastützpunkts Berlin an der BBW-Akademie Karlshorst verbringen die Leistungssportler nur 20 Stunden die Woche in der Ausbildung. Damit verbleibt viel Zeit zum Trainieren. Die Ausbildung streckt sich allerdings auf vier Jahre.

Und nun wirst du dich auf die Paralympischen Spiele vorbereiten?

Erstmal ist nächstes Jahr die WM. Ich konzentriere mich nur auf die Sachen, die anliegen. Nicht auf die, die in weiter Ferne liegen. Zunächst möchte ich nächstes Jahr Straßenweltmeister werden.

Interview: Sonja John

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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