Ausgabe 08 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 


Foto: Erik Irmer

Eine Spreefahrt, die ist lustig

Überlegungen zum Stillen eines Nachholbedürfnisses

Wer nach Berlin kommt, besteigt für gewöhnlich in kürzester Zeit einen Spreedampfer. So eine Tour gehört halt dazu, und deshalb wird sie auch gemacht. Was aber ist mit denjenigen, die es in den ersten Tagen verpassen, sich diesem Ereignis hinzugeben, und die dennoch länger in der Stadt zu bleiben gedenken? Fortan leben sie mit der Gewißheit eines schmerzlichen Mangels, der sich nicht einfach beheben läßt: Denn woher zum Teufel sollte urplötzlich das Bedürfnis kommen, sich unter Heerscharen von Stadttouristen zu begeben, sich von ihnen über die Gangway an Bord des Schiffes spülen zu lassen und einen Fahrschein zu einem Preis zu lösen, für den man einen ganzen Tag lang hätte U-Bahn fahren können. Sie sehen: Einmal in Berlin niedergelassen, ist es nahezu ausgeschlossen, sich an Bord eines solchen Schiffes zu begeben. Der nun folgende Bericht kann also nicht anders als fiktiv sein.

Wir würden also gut zehn Jahre nach unserer Ankunft in Berlin die letzte Spreetour des Tages auswählen, an einem Spätsommerabend, an dem es bereits früh kühl wird und die meisten potentiell Mitreisenden lieber wärmere Orte aufsuchen. Erschrocken sähen wir uns an der Anlegestelle „Alte Börse" um, wo früher das Kino mit den DEFA-Filmen war, da dort nichts mehr an den früher geliebten Ort erinnert. Die Besatzung des Motorfahrgastschiffs „Spreeperle" wäre erstaunt, da wir ja eigentlich auf dem Dampfer nichts zu suchen haben (siehe oben), und eine Schulklasse aus dem Hunsrück, die man tagsüber durch Friedrichstraße, Alte Nationalgalerie und übers Holocaust-Mahnmal gescheucht hätte, dürfte samt ihrer Lehrerschaft für eine Weile die Beine hochlegen, ohne wertvolle Klassenfahrt-Zeit zu verlieren.

Bis zum „Leinen los!" könnten wir noch Unmengen von Staren bestaunen, die auf der Museumsinsel nebeneinander aufgereiht die turmhohen Baukräne schmückten wie weihnachtliche Lichterketten, denen der Strom ausgegangen ist. Doch mit dem Anlassen des Schiffsdiesels erhöben sie sich zu einem schillernden Schwarm, bis sich der Berliner Dom unsanft zwischen uns und das flatternde Schauspiel schöbe. Der Schiffsführer klärte uns darüber auf, wieviele Hohenzollern-Berühmtheiten unter der wuchtigen Kuppel in ihren Gruften vergammeln, als die Schulklasse angesichts der ersten herannahenden Brükke in Winken und Hallo-Rufe verfiele. Natürlich stimmten wir ein ­ so läuft es nun mal.

Tief beeindruckt stellten wir fest, daß es selbst unterhalb von Spreebrücken Graffiti gibt und daß die allermeisten ach so sehenswerten Gebäude vom Wasser aus auch nicht viel besser aussehen als vom Land. Um so erfreuter wären wir über das reichhaltige Angebot an Bord, das von der Portion Kartoffelsalat bis zum Sauerbraten alles bietet, was der Magen begehrt ­ für den ganz kleinen Geldbeutel gibt es gar Wassereis zu 1 Euro. Da die Schulklasse sich jeden Konsums enthielte, bestellten wir mitleidsvoll dies und jenes, eingelullt von den vor Informationsgehalt überschäumenden Lautsprecherdurchsagen .

Während um uns herum Berlin in Dunkelheit versänke, schlängelte sich das Schiff ohne anzuschrammen durch funkelnde Bundestagsgebäude hindurch, aus den Lautsprechern strömte Begeisterung für das herannahende Hauptbahnhof-Ungetüm, und schließlich, als der Kahn bereits wendete, fiele unser Blick auf erstaunlich schäbige Betonwände des Bundeskanzleramts ­ das hätten wir von Land aus bestimmt nicht bemerkt!

Froh darüber, daß sich die Dampferfahrt also doch gelohnt hätte, würden wir auf dem Rückweg die zahnspangenbewehrte Schulklasse belauschen, feststellen, daß sie nicht viel Interessantes mitzuteilen hat, und schließlich erleichtert von Bord gehen. Denn wir wüßten nun, daß wir es glatt noch weitere zehn Jahre ohne Spreedampfertour in Berlin ausgehalten hätten.

Michael Trautwein

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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