Ausgabe 08 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Foto: Knut Hildebrandt

"Der Brand ist nicht unter Kontrolle"

Das Dokumentartheater zeigt im Bunker Gesundbrunnen ein beklemmendes Stück über Tschernobyl

Wer im Bunker Theater macht, muß damit rechnen, kaum gehört zu werden. Das ist ungerecht, aber wahr, wenn man sich vor Augen führt, wie wenig Beachtung das Dokumentartheater Berlin findet. Dabei hat es international Auszeichnungen geregnet, zum Beispiel auf dem Liverpooler Theaterfestival. Und das zurecht. Denn was hier mit wenigen Mitteln seit drei Jahren auf die Beine gestellt wird, ist ausgesprochen sehenswert. Derzeit sind im Bunker am Bahnhof Gesundbrunnen zwei Stücke zu sehen, beide keine leichte Kost. Ostarbeiter beschäftigt sich mit Biographien ehemaliger osteuropäischer Zwangsarbeiter; Und der Name des Sterns heißt Tschernobyl rekonstruiert die Ereignisse im April 1986, basierend auf Texten der Schriftsteller Swetlana Alexijewitsch und Anatolij Schtscherbak und hatte im April zum 20. Jahrestag der Katastrophe seine Premiere.

Drei Etagen geht es hinunter zum eigentlichen Eingang des Bunkers. Dort hängt ein großes Foto einer Stadt an der Wand ­ Tschernobyl. Ein Mann schreit in ein altes Telephon: „Der Brand ist nicht unter Kontrolle." Er trägt wasserabweisende Schutzkleidung. Kurz darauf schreit ein junger Mann: „Gehen sie bitte weiter. Bitte weitergehen." Ein Irrgang durch verwinkelte Flure beginnt. In einem Sanitäterraum dürfen wir uns wieder setzen. Das „medizinische Personal" ist in Panik. Es ist die Rede von Jodtabletten. Eine Frau im roten Kleid erzählt von ihrem Mann, der nach Tschernobyl gerufen wurde als Feuerwehrmann. Er hat alle seine Kollegen überlebt. Eine andere berichtet ähnliches. Sie sprechen von Liebe und Tod und Leiden, von ihrem und dem ihrer Männer. Doch bevor sich das Mitleid beim Zuschauer ausbreiten kann, wird man weitergetrieben: „Weitergehen, das ist hier zu gefährlich."

Auf einen Konferenzraum mit einem zynischen Apparatschik folgt ein Dorf mit vergessenen Alten. Kein Dorf, ein Raum mit einem karg gedeckten Tisch, russisches buntes Holzgeschirr darauf. Am Tisch zwei Frauen mit Kopftüchern, ein Mann spielt Akkordeon. Sie erzählen von ihrem Leben in der „Zone". So heißt die Gegend rings um den Reaktor, in der offiziell niemand und nichts mehr leben soll. Die Zone ­ das erinnert an Tarkowskijs Stalker, nur daß hier keine Wünsche erfüllt werden können oder die Erleuchtung wartet. Besuch bekommen sie so gut wie nie, nur von den Liquidatoren, jungen Männern, die sie davon überzeugen sollen, doch noch wegzugehen. Das klingt wie Science Fiction, ist aber ukrainische Realität, faßbar gemacht in diesem Stück. Der vorgetragene Text, alles authentische Gesprächsprotokolle, spricht für sich, greift an. Nach und nach, mit jeder Station des Stücks, entwickelt sich ein Panorama der Auswirkungen der Katastrophe, die bis heute nachwirkt, unterstützt durch Klangcollagen und Fotos aus dem Gebiet. Das Stück wirkt beim Zuschauer nach. Genau das will Regisseurin Marina Schubarth erreichen, die ihre Stücke auch als Unterrichtsmaterial versteht. Sie will zeigen, daß Tschernobyl keine nationale Katastrophe ist, sondern ein weltweites Problem.

Das funktioniert, besonders bei den ungefähr zwölfjährigen Schülerinnen im Publikum, die während des Stücks immer stiller geworden sind. Manche fassen sich an den Händen. Einige der Akteure sind nur wenig älter als sie, 16, vielleicht 18. Es sind keine Schauspieler, genau wie die anderen an diesem Abend, bis auf eine Ausnahme. Sie machen Theater, weil sie etwas erzählen wollen, weil es ihnen Spaß macht. Deswegen macht das auch Regisseurin Marina Schubarth, die mit ihrer Energie und ihrem Enthusiasmus mitreißen kann. Geld ist damit nicht zu verdienen. Vor allem, wenn man nebenbei auch noch in der Jugendarbeit tätig ist und sich sozial engagiert. Als gemeinnütziger Verein sammelt das Dokumentartheater Spenden für ehemalige Zwangsarbeiter und Tschernobyl-Opfer. Die Gelder werden auch diesmal persönlich abgeliefert, im Rahmen einer zweiwöchigen Tournee durch die Ukraine.

Die Jugendarbeit passiert offensichtlich im Theater, die jungen Darsteller zeigen das sehr gut. Für die Stücke gibt es mehrere Besetzungen, das ist Programm. Und es kommen immer mehr Jugendliche, am nächsten Stück sind schon 14jährige beteiligt. Daß es ihnen in der Gruppe gefällt, merkt man auch nach dem Stück, wenn alle beim Aufräumen anpacken und die Regisseurin die nächste Aufführung durchspricht. Das sieht teilweise ziemlich professionell aus. Ende September fährt die Truppe in die Ukraine und wird dort sicher mehr beachtet als hier. Das sollte sich aber ändern.

Ingrid Beerbaum

„Und der Name des Sterns heißt Tschernobyl" ab dem 15. Oktober jeden Sonnabend um 20 Uhr im Bunker am Blochplatz, Bad-/Ecke Hochstraße, Wedding, Kartentelefon: 49910517, Spenden nimmt der Verein jederzeit entgegen, www.dokumentartheater.de

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