Ausgabe 08 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Foto: Joy Markert (aus dem besprochenen Band)

Endlose Straße der Besten

Ein zwiespältiges Buch über die Potsdamer Straße

Das Buch ist voluminös: großformatig und dick, 408 Seiten umfaßt Die Potsdamer Straße von Sibylle Nägele und Joy Markert. Aber der Umfang eines Druckwerks besagt ja selten etwas über seine inhaltlichen Qualitäten. Dieses Buch jedenfalls hinterläßt beim Leser einen zwiespältigen Eindruck.

Es zeichnet die Geschichte der Straße nach: vom Ende des 18. Jahrhundert, als an ihrem südlichen Ende der (später nach Dahlem verlegte) Botanische Garten entstand, über die Biedermeierzeit, die goldenen Jahre der Straße während des Kaiserreichs, über ihr Absinken nach dem 2. Weltkrieg zum Treffpunkt des Rotlichtmilieus bis heute. Die Autoren arbeiteten sich durch Berge von Material ­ der achtseitige Literaturnachweis ist Beleg ­ für dieses wort- und bilderreiche Werk. Gern und häufig lassen sie Zitate von Zeitgenossen für sich sprechen. Die sich teils auf bestimmte Zeiträume, teils auf thematische Schwerpunkte beziehenden Kapitel umfassen neben verschiedenen Texten allgemeiner Natur viele mehr oder weniger ausführliche Biographien von Menschen, die in der Potsdamer Straße wohnten.

Diese Vorgehensweise führte aber bei den ersten Kapiteln über die Anfänge bis in die Zeit des Kaiserreichs, für die wohl nicht so viel Material zur Verfügung stand, zu einem Ungleichgewicht: Die allgemeinen Texte gerieten recht kurz. So erfährt man beispielsweise kaum etwas über die Bebauung am Südende der Straße. Demgegenüber gibt es Portraits von Malern, Dichtern, Musikern zuhauf, man glaubt, damals habe es sich bei der Potsdamer um eine endlose Straße der Besten gehandelt, eine einzige Kolonie von Genies. Über das „niedere Volk", das ja dort auch gelebt haben muß, erfährt man so gut wie nichts. Auch statistische Erhebungen über die damalige Bevölkerungszusammensetzung fehlen. So tragen die Autoren nicht zur Aufdeckung der im Untertitel angeführten Mythen bei, sondern zu ihrer Verfestigung.

Außerdem verlieren sich Nägele und Markert häufig absätzelang in Details der einzelnen Biographien, die gar nichts mit der Potsdamer Straße oder auch nur mit Berlin zu tun haben. Und abgesehen von vielen kleinen Fehlern kommt es durch die etwas merkwürdige Kapiteleinteilung und die jeweilige Zuordnung der Biographien zu Wiederholungen, beispielsweise bei den beiden biographischen Absätzen zu Paul Cassirer, zum einen im Kapitel über die Kaiserzeit, zum anderen im Kapitel „Medien in der Potsdamer Straße".

In den Danksagungen werden Förderer und Unterstützer des Buchprojekts erwähnt, u.a. das Programm „Lokales Kapital für soziale Zwecke" und Elisabeth Ziemer, die Stadträtin für Gesundheit, Stadtentwicklung und Quartiersmanagement in Tempelhof-Schöneberg. An manchen Stellen des Buchs gewinnt man allerdings den Eindruck, als seien die Förderer und Unterstützer die eigentlichen Auftraggeber gewesen, etwa wenn ein Loblied auf das Quartiersmanagement angestimmt wird, gefolgt von anbiedernden Worten über die Stadträtin.

Zudem sind Nägele und Markert, was die städtebauliche Entwicklung betrifft, keineswegs neutral. Sie schlagen sich kritiklos auf die Seite der bekennenden Moderne-Verächter, watschen den Architekten der Philharmonie, Hans Scharoun, ab und schwallen: „Nur eine humanere Einstellung zur Urbanität kann der Straße Anziehung geben." Und verweisen in der Fußnote zu diesem fulminanten Satz auch gleich noch auf Schriften des Hohepriesters der „Urbaniten", Dieter Hoffmann-Axthelm.

Schön aber, von manchen Nebensächlichkeiten zu erfahren, etwa daß das Kasseler auf den in der Potsdamer Straße ansässigen Fleischermeister Cassel zurückzuführen ist. So kann man denn auch das Buch lesen: als einen manchmal wissensvermittelnden, häufiger Anekdoten erzählenden Stadtführer für die Gegend um die Straße.

Roland Abbiate

Sibylle Nägele/Joy Markert: Die Potsdamer Straße. Geschichten, Mythen und Metamorphosen. Metropol Verlag, Berlin 2006. 19 Euro.

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