Ausgabe 08 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Abb.: Lutz Dammbeck, aus den „Herakles Notizen"

Kontrollverlust in der Desinformationsgesellschaft

Lutz Dammbeck schürt Paranoia ­ in durchaus aufklärerischer Absicht

Paranoid könnte man schon werden in diesen Zeiten. Und es sieht auch so aus, als ob uns Politik und offizielle Medien ganz gerne paranoid hätten. Angst zu schüren, bis Otto Normalverbraucher nach dem Polizeistaat und nach flächendeckender Videoüberwachung ruft, das geht am besten, indem man Informationen zurückhält. Oder falsche Informationen streut. Vor Bomben in Zügen sollen wir uns fürchten, vor bösen arabischen Jungs auf verwackelten Videobildern, vor Atomwaffen im Nahen Osten und vor ominösen Terrororganisationen, über die niemand nichts Genaues weiß. Paranoia ist laut Definition eine mit festen Wahnvorstellungen verbundene Geistesstörung. Wer denkt da nicht gleich an George W. Bush? Ist es paranoid, an der Existenz von Al Qaida zu zweifeln und den amerikanischen Geheimdienst hinter den Hochhauseinstürzen vom 11. September zu vermuten? Oder ist es paranoid, an die offiziellen Verschwörungstheorien des Weißen Hauses zu glauben?

„Ich habe Angst vor der Al Qaida, ich habe Angst vor Krebs", sagt der amerikanische Computerexperte Robert Taylor. Das seien zwei Dinge, über die man zu wenig wisse. Vor dem militärisch-industriellen Komplex hat Taylor keine Angst, denn dort kennt er sich aus. Ein Interview mit Robert Taylor ist Teil eines begehbaren Archivs, dem Herzstück von Lutz Dammbecks Ausstellung in der Akademie am Pariser Platz. Dammbeck hat führende amerikanische Theoretiker befragt, die in der Zeit zwischen dem Ende des 2. Weltkriegs und den sechziger Jahren Vordenker in Kybernetik, Systemtheorie und Computertechnologie waren. Das Bemerkenswerte an diesen „Think Tanks" in einer kreativen Aufbruchsphase, zu denen etwa die sogenannte Macy-Konferenz zählte, war, daß sich dort Kunst und Wissenschaft vermischten.

„Junge Künstler und Wissenschaftler hatten Spaß miteinander", sagt Stewart Brand, der nicht nur eines der ersten Rock-Festivals gründete, sondern auch als Erfinder des Begriffs „Personal Computer" gilt. Der amerikanische Staat war offenbar geschickt genug, diese Kreativität abzuschöpfen, Technik und Forschungsetats, aber auch Drogenexperimente waren die Köder. Damals kämpfte das offizielle Amerika den Kalten Krieg, man hatte Angst vor den „Gehirnpervertierungstechniken" der Sowjets und wollte selbst die besseren Techniken zur Gehirnwäsche haben. Der deutsche Künstler Hans Haacke, der 1970 an der Ausstellung Software im Jewish Museum in New York teilnahm, druckst heute herum: „Also man ließ sich möglicherweise auf etwas ein, worüber man die Kontrolle verlor."

Der Saal, in dem man sich die hochinteressanten Interviews ansehen kann, wird dominiert von einem Modell der „Großen Halle" von Albert Speer, dem nie ausgeführten gigantisch-häßlichen Kuppelbau. Wir befinden uns in dem Raum, in dem Speer tatsächlich seine Architekturmodelle ausstellte. Die Aura des Hauses schlägt massiv zurück, und Dammbeck spielt die Pathos-Karte denn auch genüßlich aus, allzu genüßlich. Man betritt die Saalflucht im Erdgeschoß, in der die Ausstellung stattfindet, durch den Max-Liebermann-Saal, in dem nach dem Mauerbau Grenztruppen stationiert waren, während die Ost-Akademie im Haus weiterarbeitete. Zwei deutsche Diktaturen, das ist nun wirklich zuviel des Guten, zum Paranoid-Werden. Aber wie sagt Lutz Dammbeck? „Nur die Paranoiden überleben."

Pathos auch im letzten Saal, wo Dammbeck etwas platt eine Schlinge über einen Stapel mit Enzyklopädien gehängt hat. Dafür entschädigt wird man freilich durch seine Herakles-Notizen, 100 Blätter aus einem seit mehr als 20 Jahren entstehenden work in progress aus Collagen. Leitfäden zur autoritären Kindererziehung, Passierscheine, eine Aufstellung des Umzugsgutes eines von Leipzig (DDR) nach Hamburg (BRD) Ziehenden, computertheoretische Texte und vieles mehr verdichten sich zu einem finsteren Panorama. Und dazwischen wirre Skizzen mit Pfeilen, die Begriffe wie „Globalisierung", „Concept Art" oder „Internet" verbinden. Paranoid.

Florian Neuner

„Paranoia" von Lutz Dammbeck, noch bis zum 22. Oktober in der Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Mitte, Di bis So 11 bis 20 Uhr

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