Ausgabe 08 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1906

28. September bis 25. Oktober

Details über den Aufenthalt des falschen Hauptmanns von Köpenick in der Gastwirtschaft von Reichel, Seestraße 3, ergibt eine Vernehmung von Herrn Reichel und seiner Frau am 19. Oktober. Vor der Ausübung des raffinierten Handstreichs in Köpenick am 16. Oktober war der vermeintliche Offizier schon morgens, 9.45 Uhr, in die Gastwirschaft gekommen.

Bei einem Butterbrot und einem Glas Wein begann er gleich zu plaudern. Er sei schon am frühen Morgen in einer kleinen Stadt mit lauter Fabriken gewesen. Viele Arbeiter seien ihm begegnet, hätten ihn beobachtet und zum Teil auch hämische Bemerkungen über ihn gemacht. Darauf fragte er, anscheinend nur so von ungefähr, aber in Wirklichkeit mit berechneter Absicht, ob bei Reichel wohl viele Offiziere vom Schießstand verkehrten. Als ihm geantwortet wurde, dort sei es jetzt ziemlich still und daher auch der Besuch von Offizieren bei ihnen selten, bestellte sich der „Hauptmann" noch ein Glas Wein und nahm jetzt eine in dem Zimmer ausliegende plattdeutsche Zeitung zur Hand. Auf die Frage der Wirtin, ob er denn auch Plattdeutsch könne, antwortete er, daß er für Plattdeutsch sehr eingenommen sei. Er habe Reuter gelesen und bedauere, daß die hochdeutsche Sprache die Sprache der Gebildeten geworden sei. Hätte Luther die Bibel nicht ins Hochdeutsche, sondern ins Plattdeutsche übersetzt, so wäre dies die herrschende Sprache bei uns geworden. Nun kam der „Hauptmann" auf seinen Besuch in Nauen zu sprechen, dort sei er am Tage vorher, also Montag dem 15., mit 70 Generalstabsoffizieren gewesen. Mit Wagen, die die Stadt gestellt habe, seien sie nach der Funkstation hinausgefahren. Der Turm, die Isolierung und andere technische Einrichtungen beschrieb er so eingehend, daß anzunehmen ist, der falsche Hauptmann müsse die Station genau kennen.

Nach dieser Unterhaltung ließ sich der Gast Mittagbrot geben, das er am Stammtisch verzehrte. Hierbei nahm er die Mütze ab. Nach dem Essen setzte er sie wieder auf und erhob sich, um an dem Schanktisch ein Glas Bier in einem Zuge zu leeren. Dann ging er an den Stammtisch zurück, bezahlte und rüstete sich zum Aufbruch. Als ihm der Wirt dabei helfen wollte, lehnte er freundlich dankend ab. Reichel hatte einen Augenblick Gelegenheit, in die Ärmel hineinzusehen und nahm zu seinem Staunen wahr, daß der Hauptmann sehr schmutzige Wäsche trug. Ihm den Rücken zukehrend fragte der Gast den Wirt, ob hinten auch alles richtig sitze. Als der Wirt bejahte, empfahl er sich und ging hinaus. Es war unterdessen 12 Uhr 40 Minuten, also die Zeit der Ablösung der Wache herangekommen.

Sehr beachtenswert ist die Mitteilung, die das Reichelsche Ehepaar über das Kopfhaar des „Hauptmanns" machen konnte. Die Leute sind die einzigen, die ihn ohne Mütze, mit dem bloßen Kopfe gesehen haben. Das Haar ist nach ihrer Bekundung etwa einen Zentimeter lang und steht hoch. Es ist ziemlich stark und voll ohne eine Spur von Glatze und schimmert silberweiß. Der herunterhängende Schnurrbart bedeckt die ganze Oberlippe und sieht, wie man im Volksmund sagt, abgeknabbert aus. In der Mitte schimmert der Bart rötlich blond, als ob sein Träger Tabak schnupft. Das Gesicht ist krankhaft gelblich. Seine Nase ist von Mitessernarben bedeckt, oben schmal, unten breitflügelig. Die Augen liegen tief in den Höhlen. Unter ihnen zeigen sich kreisförmige Falten, die dunkel schimmern. Das Gesicht ist häßlich und macht einen ganz abgelebten Eindruck.

Aus dem amtlichen Deutschen Fahndungsblatt: „Am 16. d. M. nachmittags gegen 4 Uhr hat ein Mann in der Uniform eines Hauptmanns des 1. Garde-Regiments zu Fuß mit 2 Gefreiten und 8 Mann hiesiger Garde-Regimenter, die er sich nach Ablösung der Schwimmanstalts- und Schießstandswache in Plötzensee bei Berlin unter dem Vorgeben, im Allerhöchsten Auftrag eine Verhaftung vornehmen zu müssen, geholt hatte, in Köpenick das Rathaus besetzt und, nachdem er den Bürgermeister und Kassenrendanten festgenommen und beide unter militärischer Bewachung nach Berlin hatte transportieren lassen, die Stadtkasse um etwa 4000 M. beraubt. Der Täter, der grauen Mantel, Fellbinde und Mütze trug, hat sich sowohl auf militärischem Gebiet wie auf dem des Kassenwesens bewandert gezeigt, er hat sich nach der Tat nach hier gewandt, hat sich um 7 Uhr abens hier Zivilsachen gekauft und sich dann per Droschke nach Rixdorf begeben."

Falko Hennig

Foto: Archiv Hennig

Radio Hochsee Themenabend: „Schriftsteller-Autos" mit Ulf Geyersbach am 11. Oktober, 20.30 Uhr im Kaffee Burger, weitere Informationen unter www.Falko-Hennig.de

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