Ausgabe 08 - 2006 berliner stadtzeitung
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Einmauern. Und Luftholen

Ein Ausblick auf die Zukunft des Schloßplatzes

Ende August titelte die Berliner Zeitung „Palast-Abriß wird immer teurer" und sprach von „überraschenden" Asbestfunden. Einen Tag später erschien dazu ein Leserbrief, in welchem dem Blatt geraten wurde, sich die Überschrift gut aufzuheben, denn „Sie werden sie noch ein paar mal benötigen". Und auch die „überraschenden" Asbestfunde seien vorherzusehen gewesen. Etwa drei Wochen später gab es die Präsentation des Wettbewerbssiegers zur Gestaltung des Schloßplatzes: eine Rasenfläche mit drübergelegten Holzbohlen; zur selben Zeit phantasierten die Schloßliebhaber auf einer Tagung wieder mal über die „praktische Umsetzung des Schloßneubaus". Die Zukunft des Platzes wird wohl anders aussehen.

Februar 2009 – Wegen Insolvenz der Abrißfirma verzögert sich das ursprünglich für 2007, dann für 2008 geplante Ende des Palast-Abrisses weiter auf unbestimmte Zeit. Der Senat räumt inzwischen eine Kostenexplosion um das ca. Dreifache des Kalkulierten ein. Zudem sind „auf unerklärliche Weise" mehrere hundert Tonnen Schrott verschwun-den.

August 2010 ­ Der Bundestag bekräftigt seine Empfehlung zum Schloßbau. Da aber der Haushalt immer noch „ganz schlecht" aussehe, streitet der Haushaltsausschuß weiter über die Kosten von „mindestens 1,4 Milliarden, höchstens 4 Milliarden Euro".

November 2013 ­ Ende des Palast-Abrisses. Der Bezirk Mitte weigert sich mit Verweis auf die Haushaltslage, noch eine weitere Grünfläche des Bundes in Pflege zu nehmen. Der Bundestag votiert für die Investitionsmaßnahme Katzengras. Beginn des Investorenwettbewerbs für den Schloßbau.

Mai 2014 ­ Massive Beschwerden der Bevölkerung über „das teuerste Hundeklo der Republik". Senat entschließt sich zur Klarstellung: Das „Herz der Republik" sei nie als Hundeauslaufgebiet ausgewiesen worden. Allerdings lebe man nun einmal in der „Hundehauptstadt Europas". Die drei Investoren, die ihr Interesse für das Areal und den Schloßbau bekundet hatten, haben sich inzwischen nach China und Indien abgesetzt. Dort gebe es „mehr Nachfrage nach Preußenschlössern und deutlich niedrigere Lohnnebenkosten". In China sinken die Schrottpreise.

Januar 2017 ­ Der Bundestag bekräftigt erneut seine Empfehlung zum Schloßbau. Wegen der Kürzungsmaßnahmen Hartz XXI-XXV sei ein entsprechender Haushaltstitel jedoch „derzeit nicht öffentlich darstellbar". Inzwischen hat sich eine Ökokommune samt ihrer Schafherde des Schloßplatzes bemächtigt, die aus Protest gegen die flächendeckende Abbaggerung leergezogener Brandenburger Gemeinden sowie aus „infrastrukturellen Gründen" nach Berlin gezogen ist. Die Schafe weiden auf dem Schloßplatz, die Touristenzahlen steigen langsam wieder an. Der Schloßverein erwägt, „original Preußen-Pullover aus original Schurwolle zum symbolischen Preis" zu verkaufen, um Spenden für die Schloßfassade einzuwerben.

März 2019 ­ Die Koalition ist über dem Haushaltsstreit zerbrochen, der Bundesrat hoffnungslos zerstritten, weil Bayern, Baden-Württemberg und weitere Bundesländer (genau genommen fast alle) die Berliner Preußenschloß-Rekonstruktionspläne „einfach Quatsch" nennen. Föderalismuskrise. Die sich explosionsartig vermehrenden Schafe wildern inzwischen auch auf dem wegen „überraschenden" Asbestfunden abgeräumten Marx-Engels-Forum und sogar vor dem Roten Rathaus. Schloßbau offiziell auf 2018 verschoben.

September 2020 ­ Senat erteilt bayrischen Schützenvereinen Jagdscheine, um der aus Polen eingewanderten Wolfsrudel auf dem Schloßplatz Herr zu werden.

Januar 2022 ­ Die Lage eskaliert. Inzwischen marodieren die aus den U-Bahnen vertriebenen Zehlendorfer Jugendgangs auf dem Schloßplatz und rauben die bayrischen Schützen aus. Bürgerkriegsähnliche Zustände. Bundeswehr marschiert auf. Die Touristenzahlen in Berlin steigen erfreulich. Der Bundestag bekräftigt erneut sein Votum.

Juni 2022 ­ Auch die Bundeswehr kann die Situation nicht mehr unter Kontrolle bringen. In der Not greift die Bundesregierung auf ein uraltes, zuletzt in einer Ausstellung von 2005 empfohlenes Konzept zurück: „Einmauern. Und Luftholen." Einmauern des umkämpften Terrains samt Schützenvereinen und Gangs. Die aus einem Museum ausgekramte gemalte Schloßfassade wird ordentlich abgestaubt und „aus ästhetischen Gründen" vorgehängt. Der Vorhang fällt. Die Zahl der Touristen auch.

Ulrike Steglich/Jörn Luther

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