Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Zwischenland

Foto: Christoph Eckelt , aus der Serie „Niemandsland", Berlin 2002/2003

Seit sieben Jahren eilen die Passanten durch den Windkanal, der einst die historische Mitte war. Auf diesem Acker historischer Denkmäler haben viele die Grenzen ihrer seelischen Belastbarkeit tatsächlich erreicht. Die reumütige Wiederaufführung des Schloßkörpers ist nicht alles, aber ohne das Schloß ist hier alles nichts.

Michael Mönninger in der Berliner Zeitung, 1997

Ich will keinen kaputten Keks. Ich will einen ganzen.

Leo, 3 Jahre, 2003

Das Kind klingt wie Mönninger, nur weniger pathetisch. Es will seinen Keks ganz und rund, nicht durchgebrochen und bröcklig. Und genauso stand Mönninger damals da und sagte, er möchte seine „historische Mitte" ganz und rund, nicht durchgebrochen und bröcklig, bitte schön. Dem Kind könnte man einfach einen neuen Keks geben, theoretisch. Aber mit Städten oder Stadtmitten geht das nicht. Und außerdem, das hat die Mutter von ihrer ausgebombten Großmutter, schmeißt man Kekse nicht einfach weg, nur weil sie kaputt sind.

Man kann mit einem Dreijährigen nicht über eine Philosophie von Keksen und Städten diskutieren. Über das Kaputte und die kindliche Vorstellung des Heilemachens. Dreijährige kennen nicht den horror vacui. Sie kennen den Mond und die Geschichte vom Krümelmonster, das den Mond anknabbern will, weil der aussieht wie ein Keks.

Aber diese aberwitzigen Stadtdebatten, die Mitte bis Ende der Neunziger in Berlin tobten, die hatten nicht nur mit Baulandverwertungsinteressen, Geschmacksdiktatur und Profilierungsgelüsten zu tun, sondern auch sehr viel mit dem horror vacui. Man erlebte erwachsene Männer, die es sich geradezu zwanghaft auf die Flagge geschrieben hatten, jeden irgendwie brachen, unfertigen oder auch nur großzügig-offenen Raum mit Baumasse zuzustopfen. Diese „asiatische Leere" auf dem Alexanderplatz! Geradezu der „Vorhof der Mongolei"!

Man sah Männer, die durchaus über Macht verfügten ­ Politiker, Planer, Redakteure ­, wie sie nach ihrem heilen Keks greinten. Und wäre die Situation nicht so ernst gewesen, gerade weil diese Männer über Macht verfügten, dann wäre sie nur lächerlich gewesen.

Ich kannte diesen horror vacui nicht. Ich war großgeworden in einer Stadt mit grauen Altbauten und Bombenlücken, in denen inzwischen Bäume wuchsen, mit „Altneubauten" aus den fünfziger Jahren und geradezu verschwenderischen Freiflächen zwischen Sechziger- und Siebziger-Jahre-Bauten; in einer Baustellenstadt. Der Beton des Plattenbauviertels war nicht romantisch, aber Heimat.

Wenn wir als Jugendliche herumhängen und einen Hauch Welt schnuppern wollten, fuhren wir zum Alex oder zum Lindencorso. Dort saßen wir am Springbrunnen und ließen die Beine baumeln. Wir träumten nicht von Westdeutschland, von Lübeck oder Düsseldorf. Wir träumten von New York und London und Indien. Hin und wieder auch mal von Buch- und Plattenläden in Westberlin, wenn wir die teuer auf dem Schwarzmarkt erworbene Nina-Hagen-Platte hörten. Westdeutschland war bloß das Ausland nebendran, das nicht weit genug weg war und vermutlich auch ziemlich spießig.

Aber Westberlin, das hörte sich bei Nina Hagen schon aufregender an. Und wenn wir an der Mauer entlanggingen, dachten wir, es müsse schon etwas ungeheuer Aufregendes, Verbotenes, Schillerndes dahinter sein, daß man gemeint hatte, eine solche Wand bauen zu müssen. Es war schließlich die Wand, hinter der die Rolling Stones spielten.

Mein erster Grenzübertritt fand im Dezember 1989 statt. Ich passierte den Übergang Invalidenstraße. Die Straße ging einfach nur weiter, still und unspektakulär.

Eines Tages besuchte ich meinen Freund M. in der Treptower Bouchéstraße. Das Haus roch immer noch genauso nach Bohnerwachs wie 20 Jahre zuvor. Ich hatte dort meine ersten Lebensjahre verbracht. Die Grenze durchschnitt die Bouchéstraße, der vordere Hauseingang war zugemauert worden, seitdem mußte man über den Hof ins Haus. Nun war M. ausgerechnet in dieses Haus gezogen. Als ich ihn dort besuchte, sah die Straße irgendwie anders aus. Es dauerte eine Weile, bis ich es begriff: Sie hatten die Mauersegmente abgeräumt, die Straße ging plötzlich einfach weiter. Und irgendwie war auch dieses hastige, sang- und klanglose Abräumen eine Form von Betrug.

Zu Hause blieb kaum ein Stein auf dem anderen. Nicht in den Familien, nicht in den Leben, nicht in der Stadt. Wir wohnten in einem anderen Land, ohne umgezogen zu sein. Die Leute versuchten, die neuen Spielregeln des öffentlichen Lebens zu begreifen. Schwer zu sagen, ob das neue Steuersystem komplizierter war, das Schulsystem oder das Mietrecht. Das Brot war teurer geworden und die Miete. Dafür waren nun die Fernseher spottbillig. Es war ein bißchen lächerlich: Ich war Mitte 20 und fühlte mich wie ein Schulkind.

Eigenartiges Gefühl, als ich zum ersten Mal in einer Immobilienauktion in einem noblen Westberliner Hotel saß und zusah, wie das Haus versteigert wurde, das wir noch bis vor kurzem ganz selbstverständlich als „unser Haus" bezeichnet hatten, einfach, weil meine Nachbarn und ich dort wohnten. Eine alte Mietskaserne in der Ackerstraße mit Remise, Etagen-Außenklos, Ofenheizung und einem wildzugewachsenen Garten hinterm Hinterhaus, in dem sich die Katzen vergnügten und manchmal die frischverliebten Pärchen. Ein kurzer Herr in roter Samtweste hatte den Zuschlag erhalten. Es war ein bißchen, als hätte man uns mitverhökert.

Ich hätte gern den Westen näher erkundet, für mich erobert. Aber es ging nicht, und es war auch nicht nötig: Er war schon da. Ich war in Atem gehalten von der Rasanz, mit der mein Zuhause erobert, geformt und geknetet wurde, sich veränderte und entfremdete. Die räudigen Fassaden wurden geliftet. Orte meiner Kindheit verschwanden in sagenhaftem Tempo. Man mußte höllisch aufpassen. Es konnte passieren, daß man dem Lindencorso mal kurz den Rücken zugekehrt hatte, und kaum drehte man sich um, war dieser wundervolle, luftig-heitere Ort einfach weg. An seiner Stelle bedrängte ein neuer Riffelbetonbau mit ordentlicher Traufhöhe die Bordsteinkante.

Ich traf nun öfter Leute, die fassungslos sagten: Und plötzlich war das Haus einfach weg. Aus Häuserlücken, in denen gestern noch Bäume standen, wuchsen plötzlich stahlgespickte Gründungen und Baugerüste. Ganze Stadien und Industrieareale verschwanden. Doch an deren Stelle traten nur hochschäumende Pläne. Bis auch die in Nichts zusammenfielen.

Und dann verschwanden auch Leute. Man merkte es zuerst nur nicht so, denn es gab so viele neue Bewohner im Viertel. Zuerst verschwanden die Alten, es hatten nicht wenige in dieser Gegend gelebt. Eine Zeitlang sah ich noch Kurti in seinem blauen Dederonkittel brabbelnd durch die Ackerstraße schlurfen. Jedesmal, wenn ich ihn traf, schien er noch ein Stück kleiner und seine weißen Haare noch gelblicher geworden zu sein. Dann sah ich ihn nicht mehr. Ich wurde die merkwürdige Vorstellung nicht los, daß er vielleicht in seinem blauen Dederonkittel ertrunken war. Irgendwann war auch die drahtig-verwitterte B.Z. Verkäuferin vor der Ackerhalle weg, für die Kurti öfter mal die Vertretung gemacht hatte. Nach und nach verschwanden auch alte Freunde und Bekannte. Manche zogen weg, und manche starben, in einem Alter, in dem man noch nicht stirbt.

Die Verluste nahmen kein Ende. Die Halbwertszeiten schienen immer kürzer zu werden. Die Zeit zwischen Kennenlernen und Abschied. Jetzt, zehn Jahre später, habe ich manchmal Angst davor, die Freunde und die vertrauten Gesichter nur noch bei Trauerfeiern versammelt zu sehen.

Vielleicht bin ich zu spät gekommen.

Immer wenn ich das Gefühl hatte, die Welt stünde kopf und ich würde irre daran, ging ich zu Martin ins „Odessa". Martin ist gebürtiger Liechtensteiner. Er hat 30 Jahre lang alte Häuser geflickt, in aller Welt. Und kurz nach der Wende hatte es ihn in diesen Osten gezogen.

In einer kleinen dunklen Straße betrieb er eine Bar, das „Odessa". Ich hatte noch nie eine Bar gesehen, die mit so viel Liebe und Sinn für Details improvisiert war wie das „Odessa". Es war spartanisch und perfekt. Es war nichts Überflüssiges hierin und nichts Teures, und nichts war billig an diesem Raum. Der Tisch ein einfaches dunkles Stück Holz, mit dem Finger konnte man die Furchen nachfahren. In einer Zeit, als die Straßenränder voll waren von Möbeln, die die Leute aus ihren Haushalten schmissen, sammelte Martin hier und da Material auf, baute und zimmerte, wusch sanftrote Farbe in den Putz ein und erfüllte sich damit einen kleinen Traum ­ eine Bar ganz nach seinen Vorstellungen. Es war die einzige Bar, die ich kannte, in die man kam, um mit dem Wirt zu reden. Die Naßforschen, Lauten und Instinktlosen hatten an diesem Ort keine Chance.

In den Sommern saßen wir in dem kleinen verwilderten Garten gegenüber, einer dieser Bombenlücken. Wenn ich mit Martin sprach, hielt die offenbar verrücktgewordene Uhr, die die Leute plötzlich in einem Affenzahn durchs Leben hetzte, für eine Weile an. Martin war hierhergezogen und hatte mir und anderen etwas wie Heimat zurückgegeben.

Wo Martin seinen Garten hatte, steht jetzt ein Neubau mit Eigentumswohnungen. Das Viertel, in dem ich mal zu Hause war, ist fremd geworden. Spätestens, als ich die frisch renovierten „Rosenhöfe" sah, dort, wo es noch nie irgendwelche Rosenhöfe gegeben hatte, sondern nur Altbauten mit unspektakulärer Fassade; als ich diesen verschnörkelten, goldverzierten Albtraum in Altrosa und Türkis sah, fand ich die Sache nur noch albern und habe mich verabschiedet. Kurz zuvor war ich in Düsseldorf gewesen, und das hier sah verdammt danach aus. Von Düsseldorf hatten wir nie geträumt.

Wenn ich die Stadt spüren will, gehe ich auf die magische Brücke, zum Schwedter Steg. Man geht die Schwedter Straße hoch, am Mauerpark vorbei Richtung Wedding. Unter der Brücke ist eine riesige Brache, durchzogen vom Gewirr der Gleise, wo die S-Bahnen ihre Kurven ziehen. Wenn man sich umdreht und zurückblickt, erlebt man eine vorwitzige Verkehrung politisch-geographischer Verhältnisse. Man sieht links ­ also im subjektiven Westen ­ die Mietskasernen des Prenzlauer Bergs, rechts die Siebziger-Jahre-Bauten des Weddinger Gesundbrunnenviertels. Dazwischen die weite Brache. In der Mitte der Fernsehturm, wie ein Ausrufezeichen. Man dreht sich zurück und läuft die Steigung der Brücke immer höher, bis man nur noch Brücke, Brache und den Horizont sieht.

Es ist ein Ort, an dem die Stadt Pause macht.

Paradox, daß ausgerechnet die Orte entlang des ehemaligen Mauerstreifens etwas Befreiendes haben. Orte, die nicht fertig und verputzt sind, festgelegt und funktionieren müssen. Man hat versucht, sie zu beplanen, aber man bekam sie nicht in den Griff. Und dann war der Laden pleite.

So sieht man manchmal absurde Bilder. Man hat ehrgeizig, auch verzweifelt, Neues hingewuchtet. Aber es wirkt wie eine bloße Behauptung. Immer sind Reste liegengeblieben. Reste, Brüche, Brachen.

Sie sind Abschied und Ungewißheit gleichzeitig, bergen Verlorenes wie Künftiges gleichermaßen. Ohne daß das eine das andere zerstören und vernichten müßte.

Es sind Orte, die niemandem wirklich gehören. An denen wir in der neuen Fremdheit ankommen. Und niemand bemäkelt unser Gepäck.

Ulrike Steglich

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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