Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Gezählt und gezähmt

Die Geschichte der Zeitmessung

Mit fortschreitendem Stand der gesellschaftlichen Entwicklung sind die Ansprüche an Genauigkeit und Einheitlichkeit der Messung und Darstellung von Zeit gestiegen. Angefangen bei frühen Kalendarien, die aus der Beobachtung der Sonne und des Mondes abgeleitet waren und dabei halfen, das Jahr sinnvoll in Monate und Tage einzuteilen, bis zu den modernen Techniken, die es ermöglichen, global einheitlich einen Zeitstandard zu definieren, dessen Präzision die menschliche Auffassung bei weitem übersteigt. So erfolgte im Verlauf der Jahrhunderte eine fortschreitende Verbesserung der Zählung und damit eine „Zähmung" der Zeit.

Erste Uhren in einem modernen Sinne waren Sonnenuhren (ab dem 3. Jahrtausend v. Chr.), die einen künstlichen Schattenwurf des Sonnenlichts zur Zeitdarstellung nutzten. Die ältesten Konzepte zur Zeitzählung mit Hilfe einer Uhr, die von Sonnen- und Mondstand unabhängig ist, stammen aus vorchristlichen Zeiten und waren Wasser-, Öl- oder Sanduhren (etwa ab dem 14. Jahrhundert v. Chr.). In ihnen „verrinnt" die Zeit in dem Maße, in dem das Medium kontrolliert von einem Gefäß in ein anderes fließt. Insbesondere in Ägypten, Griechenland und China gab es bereits in vormittelalterlichen Zeiten Modelle, welche einen Tagesverlauf minutengenau darstellen konnten. Zu dieser Kategorie „Uhr" kann man auch alle Arten von Kerzen und Brennstäben zählen, wie sie seit etwa 900 n. Chr. vor allem in Europa verbreitet waren. Hier war eine aufgebrachte Zeitskala das Maß, mit dessen Hilfe aus dem Stand der abbrennenden Kerze auf die aktuelle Zeit geschlossen wurde.

Mechanische Uhren sind eine europäische Erfindung, die dem 13. Jahrhundert zugeschrieben wird. Sie erfuhren eine rasante Entwicklung und waren schnell genauer als andere Techniken, insbesondere aber waren sie zumeist kleiner, zuverlässiger und verbrauchten kein Medium. Ihre Mechanik konnte verwendet werden, um große Zeiger und Schlagwerke zu betreiben, und sie waren daher per contructionem für eine öffentliche Zeitzählung prädestiniert, wie sie zunächst in Kirchturmuhren und ihren Schlagwerken realisiert wurde. Mechanische Uhren wurden schnell präzise und konstant in ihrem Gang, jedoch waren sie stets lokal und ihre Wahrnehmbarkeit auf einen kleinen Bereich beschränkt. An verschiedenen Orten hatte man also verschiedene Zeiten ­ je nachdem, mit wem man sich einigte und je nachdem, von welcher geographischen Breite aus man sich nach dem Sonnenlauf richtete, um eine Ausgangszeit festzulegen.

Das war kein Problem, solange die Lebens- und Erfahrungsbereiche der Bevölkerung ebenso lokal waren wie die Uhren. Zum ersten massiven Konflikt kam es mit der Erfindung der Eisenbahn, die verschiedene Orte so schnell verband, daß diese Effekte spürbar wurden. Insbesondere auf Ost-West-Reisen wurde der lokal verschiedene Zeitpunkt des Sonnenaufgangs bemerkbar und führte beispielsweise zur Einführung einer „Normzeit" für Großbritannien im Jahre 1848. Später, 1884, wurden die globalen Zeitzonen eingeführt, wie wir sie heute kennen, also geographische Breitenbereiche, in denen man sich auf eine einheitliche Zählung zu verständigen hatte.

Möglich wurde dies erst durch die Einführung von Kommunikationsformen, die schneller waren als die Reisegeschwindigkeit, zuerst durch die Telegraphie. Mit ihr verschwand das Problem der Vereinheitlichung, hinterließ aber das Problem der Präzision und Konstanz des Ganges der Uhr. Während die frühen Wasser-, Öl- und Sanduhren in dem Sinne kontinuierlich waren, daß ihr zeitzählendes Medium praktisch ein Kontinuum war, basieren mechanische Uhren und alle ihre modernen Nachfolger auf der Zählung kleinster Zeiteinheiten. Bei mechanischen Uhren ist dies entweder die Zeit, die das Pendel für einen Schwung braucht, oder die Unruh für eine Drehung. Typischerweise liegen diese Zeiten zwischen einer Sekunde und einer Fünftelsekunde. Genauer als dieses „Zeitquantum" kann die Uhr die Zeit klarerweise nicht auflösen und darstellen.

Der Weg zu präziseren Uhren führt also über die Verwendung kleinerer Zeitquanten. Mechanisch würde dies eine Miniaturisierung bedeuten, die aber nicht viel weiter getrieben werden kann. Ein nächster Schritt sind daher schwingende Objekte, die nicht mechanisch, sondern elektrisch funktionieren, nämlich schwingende Kristalle („Quarz-Uhren", seit etwa 1929). Hier erreicht man einige tausend bis einige Millionen Schwingungen pro Sekunde mit sehr hoher Konstanz, was es ermöglicht, Zeiten mit Auflösungen von Millisekunden und besser (10-3 s bis 10-6 s) darzustellen. Seit mehr als 30 Jahren ist diese Technik handgelenksreif und für den Alltag mehr als ausreichend.

Großen Bedarf jenseits dieser Präzision gibt es jedoch in Wissenschaft und Technik. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es vielfältige Techniken zur Zeitzählung, die auf optischen Übergängen in Atomen und Molekülen basieren („Atomuhren" seit etwa 1947) und mit deren Hilfe man viele Milliarden Schwingungen pro Sekunde verwenden kann, um Zeiten bis weit jenseits des Nanosekunden-Bereichs (10-9 s bis 10-15 s) aufzulösen. Für den Alltag sind aber auch solche Uhren nicht irrelevant, sind sie doch die Basis des modernen, internationalen Zeitnormals und werden unter anderem für die GPS-Satellitennavigation eingesetzt. Eine Obergrenze für die Sinnhaftigkeit immer kleinerer Zeitquanten ist wohl gegeben durch die kürzesten Zeitskalen, auf denen physikalische Prozesse ablaufen. Nach heutigem Stand sind dies Attosekunden-Skalen (10-18 s), für die selbst moderne, optische Zeitzählungen noch zu grob sind.

Manuel Vogel

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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