Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
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Der Eingriff in fremde Zeit ist begründungsbedürftig"

Dietrich Henckel über Zeitpolitik als Auseinandersetzung um eine wenig beachtete Ressource

Dietrich Henckel ist seit zwei Jahren Professor am Institut für Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin. Davor war er über 20 Jahre beim Deutschen Institut für Urbanistik (DIFU), wo über die Beschäftigung mit räumlichen Auswirkungen des wirtschaftlichen Strukturwandels sein Interesse für das Thema Zeit entstanden ist.

Warum ist es wichtig, sich wissenschaftlich mit Zeit zu beschäftigen?

Zeit ist gestaltbar, Zeit wird auch permanent gestaltet, häufig aber auf eine sehr implizite Art. Die Pflegeversicherung wurde beispielsweise zum Teil durch die Abschaffung eines Feiertages finanziert. Dadurch fällt eine vorgegebene gemeinsame Zeit, eine „Zeitinstitution", einfach weg. Die Arbeitszeit, die zwischen den Tarifparteien ausgehandelt wird, ist ein weiteres Beispiel, weil in diesem Kontext nicht die Folgen der Flexibilisierung und Ausdehnung für die unterschiedlichen Bereiche wie etwa den Nahverkehr, die Nachfrage nach Dienstleistungen, die Zeiten der Polizei mitbedacht werden. Die im Rahmen der Ökonomisierung von Zeit vorgegebenen Taktzeiten führen in bestimmten Dienstleistungsbereichen dazu, daß sich die Qualität der Versorgung verschlechtert ­ etwa in der Pflege. Die Pflegeinstitution oder -person muß immer wieder neu entscheiden, welche Zuwendung noch möglich ist.

Auch die Neuausrichtung der Förderpolitik in den neuen Bundesländern und damit verbundene Fragen der Infrastrukturausstattung hat zeitliche Implikationen. Denn wenn man Infrastruktur konzentriert, mutet man einer Reihe von Leuten zu, weitere Wege in Kauf zu nehmen. Wenn man Taktzeiten im öffentlichen Verkehr verändert, hat das Konsequenzen für raumzeitliche Zugänglichkeiten. Neue Fahrpläne der Bahn sind immer eine Form von Zeitpolitik, was aber nie als solche thematisiert wird. In dieser Hinsicht ist auch die Verlagerung des Hauptbahnhofs ein großes zeitpolitisches Experiment.

Sie haben vor kurzem eine Studie vorgelegt über die Tendenz in Städten zur Ausweitung von Aktivitäten rund um die Uhr. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Nonstop-Betrieb". Welche Indizien haben Sie für diese These?

Es gab schon immer Nonstop-Betriebe wie Polizei und Feuerwehr. Auch in der Chemie- oder Stahlproduktion kann man nicht einfach den Prozeß anhalten und wieder neu anfahren. Aber im Zuge der Internationalisierung und der Verschärfung des Wettbewerbs und der Kapitalintensität ist der Druck auf die schnelle Amortisation der kapitalintensiven Techniken gestiegen. Es ist statistisch erkennbar, daß sich die Betriebslaufzeiten ausgedehnt haben.

Es gibt ein ganz anderes Indiz. Wir haben einmal die Nachtverkehrsnetze von Berlin 1900, 1963 und 2003 übereinandergelegt. Wir konnten sehen, daß das Nachtnetz immer dichter geworden ist und raumgreifender. Bereits der Umstand, daß es dieses Nachtnetz gibt, ist ein Indiz für die Nachfrage. Sowohl das Vergnügen als auch wirtschaftliche Aktivitäten haben sich in die Nacht ausgedehnt.

Wer trägt die Kosten, wer zahlt für die Nonstop-Gesellschaft?

Beispielsweise der Schichtarbeiter, der dadurch Gesundheitsschäden davonträgt. Und die Versicherungsgemeinschaft, für die durch Herz-Kreislauferkrankungen, Magen-Darm-Geschichten, die typisch für Schichtarbeit sind, höhere Ausgaben entstehen. Darüber hinaus entstehen nicht bezifferbare Koordinationskosten, weil man viel Zeit damit verbringt, gemeinsame Zeiten zu vereinbaren und damit erst herzustellen. In meiner Jugend ging man einfach bei Freunden vorbei und guckte, ob sie da sind. Heute verabredet man sich zum Telefonieren.

Warum ist es so wichtig, daß eine Gesellschaft gemeinsame Zeiten hat?

Manche Firmen werben damit, daß bei ihnen jeder Tag Dienstag ist. Aber ist es wirklich egal, ob Dienstag oder Sonntag ist? Es muß Feiertage geben, wo die Chance, daß Sie einen Großteil der Gesellschaft treffen, günstig ist. Deshalb bin ich ein erklärter Gegner der Finanzierung der Pflegeversicherung über die Abschaffung des Buß- und Bettages. Das ist immer noch eine kollektive gemeinsame Zeit, in der man zur Ruhe kommt. Ich bin auch ein dezidierter Gegner der Sonntagsöffnungszeiten von Läden. Man sollte solche Zeitinstitutionen, die kollektive Marken setzen, nicht leichtfertig aufgeben.

Bei gemeinsamen Zeiten können Sie davon ausgehen, daß es relativ leicht ist, bestimmte Leute zu treffen. Wenn alles beliebig ist, müssen Sie immer alle Leute gesondert koordinieren. Mein Eindruck ist, daß die Zahl der Netzwerke, in die viele Leute in irgendeiner Weise eingebettet sind, zunimmt. Dadurch steigt auch die Zahl der gescheiterten Kontakte und der Aufwand, irgendetwas zustandezubringen. Und da frage ich mich, ob es da eine angemessene Größe gibt oder, wie wir Ökonomen sagen: ein Optimum. Sind wir nicht in einer Phase, wo Kommunikation viel häufiger scheitert als gelingt?

Betrifft die Nonstop-Gesellschaft Männer und Frauen gleichermaßen oder hat sie unterschiedliche Auswirkungen?

Auch wenn in der Industriegesellschaft die Rhythmen relativ klar waren, hieß das auf der anderen Seite auch, daß die Frauen immer der Zeitpuffer für die Anforderungen des Arbeitslebens der Männer gewesen sind. Insofern sollte man diese Zeiten nicht verherrlichen. Im übrigen war der Ausgangspunkt für das Entstehen von Zeitpolitik in Italien, daß die Bewegung der KPI-Frauen diese Doppelbelastung nicht mehr hinnehmen wollte. Die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen vertrug sich nicht mehr mit der schlechten Organisation des öffentlichen Dienstes; wenn sie arbeiteten, hatten sie deswegen keinen Zugang zu den öffentlichen Dienstleistungen und Ämtern mehr. Vorher hatten eben die Männer gearbeitet und die Frauen Behördengänge erledigt. Seitdem sie aber selber arbeiteten, funktionierte das nicht mehr.

Ich bin schon der Auffassung, daß diese Veränderungen von Flexibilisierung bestimmte Bevölkerungsgruppen in spezifischer Weise mehr oder weniger betreffen, aber es verändert auch die gesamte Gesellschaft weitreichend. In meiner Jugend schliefen die Leute vor dem Testbild am Fernseher ein. Jetzt gibt es 30 Sender, die rund um die Uhr senden. Das sind weitreichende Änderungen, die die Anspruchnahme des Zeitbudgets dramatisch verändert haben. Es gibt Untersuchungen, die nicht ganz unumstritten sind, die zeigen, daß die durchschnittliche Schlafdauer in den letzten 100 Jahren um eine Stunde zurückgegangen ist. Es gibt chronisch übermüdete Gesellschaften wie Japan ­ ich habe noch nie ein Land gesehen, wo so viele Leute im Zug schlafen.

Gehört es nicht zu einer normalen Entwicklung kapitalistischer Systeme, daß man die Zeiten, in denen man die Arbeitskraft nutzen kann, so weit wie möglich ausdehnt?

Das ist überhaupt keine Frage. Es hat immer einen Kampf um Zeit gegeben. Sie können statistisch nachweisen, daß in den letzten Jahren die durchschnittliche Arbeitszeit pro Kopf nur relativ gering zurückgegangen ist, sich dabei aber relativ stark polarisiert hat. Denn bei den Berufsgruppen mit Engpaßqualifikation oder hohen Investitionen in die Ausbildung stagnieren die Arbeitszeiten oder dehnen sich aus. Hier greift im Grunde die gleiche Logik wie bei Maschinen, die man möglichst lange auslasten und möglichst schnell amortisieren will. Im Gegensatz zu Maschinen gibt es beim Menschen allerdings chronobiologische Grenzen.

Ich habe Ihre Studie so verstanden, daß Sie durchaus dazu ermuntern, flexibel zu sein. Aber befördert man diesen Trend zur Nonstop-Gesellschaft nicht, wenn man sich auf sie einläßt, so daß ein sich selbst verstärkender Kreislauf entsteht?

Das hängt von der normativen Grundeinstellung ab, und da gibt es ganz unterschiedliche Haltungen. Ich selbst genieße natürlich, auch abends später noch in der Kneipe etwas zu essen zu bekommen oder nehme Dienstleistungen außerhalb klassischer Bürozeiten in Anspruch. Doch da gerate ich in Rollenkonflikte, denn als Konsument muß ich die Dienstleistung ja nicht erbringen, sondern andere.

Der Trend Richtung Flexibilisierung und Ausdehnung wird nicht aufzuhalten sein. Es geht deshalb darum, das „Recht auf die eigene Zeit" zu sichern: Darf ich über meine Zeit bestimmen oder werde ich fremdbestimmt? Kann ich flexibel handeln oder werde ich flexibilisiert? Wenn ich um sieben oder um neun Uhr ins Büro kommen kann, kann ich die Arbeit meinen Schlafbedürfnissen, familiären Bedingungen usw. anpassen. Wer aber im Einzelhandel arbeitet und womöglich bereitsteht, um sich auf Abruf an die Kasse zu setzen, der ist auch sehr flexibel, aber auf eine andere Weise. Das hat mit Zeitautonomie nichts mehr zu tun.

Welche Möglichkeiten hat das Individuum, mit zeitlichen „Sachzwängen" umzugehen?

Wer sich den Sachzwängen verweigern will, muß bereit sein, den Preis zu bezahlen, der damit verbunden ist. Wer in einer Großstadt nach einem ländlichem Rhythmus leben möchte, braucht eine ganz spezielle Qualifikation, um sich dieses Leben materiell leisten zu können. Für die Mehrheit ist das sicher keine Option. Für sie sollte es die Möglichkeit von individuell angepaßtem Mitmachen geben. Man sollte sie mit Rechten ausstatten und kollektive Rahmensetzungen gewährleisten, indem man bestimmte kollektive Zeiten festlegt, die nicht überschritten werden. Der Eingriff in die fremde Zeit ist begründungsbedürftig. Das sind alles Debatten, die noch am Anfang stehen, zumal Zeit ja auch so schwer greifbar ist. Aber die Debatte ist notwendig. Denn Zeitfragen sind auch Machtfragen. Das kann man an beliebigen Punkten festmachen, etwa wer wen warten lassen darf, wer wartet und wer nicht.

Welche Möglichkeiten haben die Kommunen, zeitpolitisch aktiv zu werden?

Das geht los bei den Angebotszeiten öffentlicher Dienstleistungen: Wann etwa soll der Kindergarten geöffnet sein; die Kommunen müssen entscheiden, ob sie sich nach den Wünschen von Eltern im Schichtbetrieb richten oder nach den Wünschen der Angestellten der Kindergärten, die die Kinder betreuen. Oder sie können auf die Gestaltung von Fahrplänen im öffentlichen Nahverkehr Einfluß nehmen und sie z.B. auf die Fahrpläne des Fernverkehrs abstimmen. Als bei VW in Wolfsburg die 4-Tagewoche eingeführt wurde, halbierte sich die Zahl der Abonnements des öffentlichen Nahverkehrs. Die Straßen waren frei, die Busse fuhren zu selten, mit den flexibilisierten Zeiten paßte das alles nicht mehr so richtig. Da hätte man sich auch eine Kooperation mit den Betrieben und öffentlichen Nahverkehrsträgern vorstellen können. Die Möglichkeiten der Kommunen sind natürlich sehr beschränkt, aber da sie selber große Arbeitgeber sind, können sich dennoch Spielräume für aktive Zeitpolitik eröffnen.

Interview: Benno Kirsch/Inett Kleinmichel

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