Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Expeditionen ins Innere des neoliberalen Kapitalismus

Ein Gespräch mit Werner Rügemer über Privatisierung, Zensur und die Notwendigkeit einer demokratischen Revolution

Foto: Veronika Chakraverty

Der Kölner Publizist und Philosoph Werner Rügemer hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Mechanismen des neoliberalen Kapitalismus einer genauen Analyse zu unterziehen. In seinem Buch über Privatisierung in Deutschland kommt er zu einer vernichtenden Bilanz und zeigt anhand zahlreicher Belege, wie korrupte Politiker Hand in Hand mit privaten Unternehmen die öffentlichen Ressourcen plündern. Alfred Freiherr von Oppenheim, dem verstorbenen Seniorchef der größten Privatbank Europas mit Sitz in Köln, hat Rügemer einen „ungebetenen Nachruf" gewidmet, in dem er die Geschäftspraktiken und die unrühmliche Geschichte des Bankhauses darstellt, das seine Aufgabe darin sieht, für wenige, sprich: millionenschwere Privatkunden „alles" zu tun und die neoliberale Umverteilung von unten nach oben mitorganisiert. Die Bank schießt juristisch mit einstweiligen Verfügungen zurück, beanstandet allerdings vor allem Nebensächlichkeiten und läßt die Hauptvorwürfe Rügemers unwidersprochen.

Haben Sie diese Reaktionen auf Ihr Buch über den „Bankier" erwartet?

Daß die Bank sich irgendwie wehren würde, habe ich erwartet, allerdings nicht in dieser Massivität. Ich hab schon früher verschiedene Verleumdungsklagen bekommen, auch von höhergestellten Persönlichkeiten wie dem Oberbürgermeister und dem Oberstadtdirektor von Köln, aber das hier hat schon eine andere Dimension ­ auch deswegen, weil nicht nur gegen mich als Autor, sondern auch gegen den Verlag vorgegangen wird. Der hat auch einstweilige Verfügungen bekommen, obwohl das gar nicht notwendig gewesen wäre, um das Buch zu unterbinden. Schon nach der ersten vierzeiligen Verlagsankündigung kam eine Unterlassungsforderung, in der die Kanzlei im Auftrag der Bank behauptete, aus der Ankündigung gehe hervor, daß in dem Buch Unwahres behauptet würde. Wie die das zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nicht einmal das Manuskript abgeschlossen war, erkennen konnten, weiß ich nicht. Aber sie versuchen's halt mal.

Das ist eine neue Qualität des Vorgehens gegen unliebsame Autoren.

Das könnte man so sagen. Das erkennt man auch daran, daß die Anwaltskanzlei Schertz Bergmann aus Berlin beauftragt worden ist, die erst seit zwei Jahren existiert und sich darauf spezialisiert hat, die sogenannten Persönlichkeitsrechte von Unternehmen zu verteidigen. Dazu hat diese Kanzlei neue Methoden entwickelt. Sie vertritt Unternehmen wie DaimlerChrysler und wirbt übrigens auch mit dem Angebot, unliebsame Recherchen schon im Vorfeld zu behindern.

In Ihrem Buch Privatisierung in Deutschland bezeichnen Sie das „Innere des neoliberal geprägten Kapitalismus" als das „letzte unerforschte Gebiet". Wie kann man da als Autor und Journalist überhaupt eindringen?

Ich hab das ja nicht gelernt. Man kann das auch nirgendwo lernen im professionellen Sinne. Ich war bis 1989 Redakteur einer pädagogischen Zeitschrift. Als ich dann arbeitslos wurde, bekam ich eine ABM-Stelle in einem privaten Institut für Abwasser- und Abfallwirtschaft. Dadurch erhielt ich unvermutete, aber sehr lehrreiche Einblicke in privates Wirtschaften. Das begann mit Bereichen wie Abwasserentsorgung und Abwasserreinigung ­ Gebiete, von denen ein normaler Journalist keine Ahnung hat. Dank dieser unvermuteten Einblicke konnte ich mich immer weiter einarbeiten, auch sachlich-wissenschaftlich. Das war der Anfang.

Man kann aber auch, wenn man nur auf frei zugängliche Quellen angewiesen ist, eine Menge herausfinden, was von der Öffentlichkeit unbeachtet bleibt. Ich nenne nur mal das einfachste Beispiel: Man muß nur regelmäßig die Wirtschaftsteile der konservativen Zeitungen auswerten, also der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Welt, Handelsblatt, Financial Times usw., da spricht ja die Wirtschaft einiges offen aus, was man in der normalen Tageszeitung oder im politischen Teil nicht findet. Das ist schon mal eine ziemlich gute Quelle.

Aber irgendwann stößt man an Grenzen.

Natürlich gibt es Grenzen, die unsereins nicht wirklich überschreiten kann oder nur ganz punktuell. Mit der Zeit gibt es immer mal jemand, der aus einem Unternehmen ausscheidet und dann etwas preisgibt, und sei es nur im privaten Gespräch. Ein guter Bekannter von mir beispielsweise, Ernest Backes aus Luxemburg, hat jahrelang im luxemburgischen Bankensystem gearbeitet und ist wegen eines Konflikts ausgeschieden. Er hat zehn Jahre mit sich gerungen, ob er über seine Erfahrungen und Kenntnisse etwas veröffentlichen soll, weil das ja auch mit Gefahren verbunden ist. Und dann hat er sich schließlich dazu durchgerungen. Seitdem wissen wir aus einer bestimmten Ecke im Herzen des europäischen Finanzsystems Dinge, die wir vorher nicht wußten.

Man stößt an Grenzen und wird wahrscheinlich auch behindert.

Ja, natürlich. Aus Vorständen von Unternehmen und aus den Spitzen der Verwaltung wird nichts freiwillig herausgegeben. Es gibt aber manchmal Glücksfälle, etwa einzelne Mitarbeiter von Rechnungsprüfungsämtern oder Rechnungshöfen, die etwas untersucht haben und zu Ergebnissen gekommen sind, die dann nicht veröffentlicht werden dürfen. Die denken aber schon mal, daß das eigentlich veröffentlicht werden müßte, und geben das mir oder anderen Kollegen weiter. Die Führungen von Unternehmen und Behörden sind nicht so einheitlich im Denken, wie man das von außen vielleicht zunächst annimmt. Da sitzen überall mitdenkende, mitfühlende, hochkompetente Menschen, die mit den Praktiken ihrer Behörde oder ihres Unternehmens nicht einverstanden sind und die dann einen Weg suchen, ihre Kenntnisse nach außen zu tragen.

Erschreckend gering ist offensichtlich die Kenntnis der Entscheidungsträger in den Parlamenten und Stadträten. In Ihrem Privatisierungsbuch zeigen Sie, daß diese Leute ständig schwerwiegende Entscheidungen treffen, ohne eigentlich zu wissen, was sie tun.

Das hab ich am Anfang auch so nicht für möglich gehalten. Aber mit der Privatisierung hat diese Uninformiertheit stark zugenommen, weil vor allem die großen Unternehmen auf ihren sogenannten Betriebsgeheimnissen bestehen. Deswegen ist es bei Privatisierungen üblich geworden, daß die politischen Entscheider nicht genau erfahren, worüber sie entscheiden sollen. Sie bekommen gekürzte, unvollständige Zusammenfassungen, die eigentlich gar keine Zusammenfassungen sind, sondern bloß eine Ermächtigung für die Verwaltung darstellen, über alle wichtigen Einzelheiten mit dem privaten Unternehmen zu verhandeln.

Die Abgeordneten sind also uninformiert oder gekauft ...

Kaufen muß man höchstens ein, zwei Leute in der Verwaltung, in den Spitzen der Fraktionen und in den Vorständen der privatisierten Unternehmen. Die Ratsmitglieder, die das Wichtige ohnehin nicht erfahren, braucht man nicht zu kaufen. Entscheidend sind die Chefs der Verwaltung, die ja dann bei solchen Verfahren das Heft in der Hand haben und die dann, wie bei der Müllverbrennungsanlage in Köln, Angebotsunterlagen zugunsten derer, von denen sie bestochen sind, manipulieren.

Sie haben auch ein Buch mit dem Titel Colonia Corrupta geschrieben. Ist Köln für Sie ein exemplarischer Fall oder ist das hier eine ganz spezielle Situation?

Ich sollte mal im Rundfunk ein Streitgespräch mit Matthew Rose, dem Autor des Buchs über den Berliner Bankenskandal, führen. Nach ein paar Minuten war aber klar, daß das kein Streitgespräch wird, und wir haben gesagt: Berlin ist wie Köln, ist zwar ein bißchen größer, aber sonst ist da kein Unterschied. In den letzten Jahren habe ich auch oft Anfragen bekommen: „Können Sie nicht mal nach Münster kommen oder nach Bonn oder nach München, wir bräuchten auch so ein Buch? Bei uns ist es so ähnlich, aber bei uns schreibt's keiner." Das mußte ich bisher immer ablehnen. Ich würde das gerne machen, es würde mich auch interessieren, aber das ist Arbeit, das dauert ein paar Jahre, und das kann ich mir leider nicht leisten.

Privatisierungen bringen für eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung nur Nachteile. Bloß eine kleine Minderheit zieht daraus Profit. Warum diese „Wahrnehmungsstarre", von der Sie in Ihrem Buch sprechen? Jeder ärgert sich über steigende Gas- oder Bahnpreise, rechnet aber nicht eins und eins zusammen.

Das hab ich mich auch oft gefragt. Eine genaue Antwort hab ich noch nicht. Die meisten Bürger erkennen den Zusammenhang mit der Privatisierung nicht. Das Sich-Beklagen über den schlechten Service der Bahn, über die steigenden Preise und die vielen Verspätungen ist ja geradezu rituell geworden in Deutschland. Aber daß das von der Privatisierung kommt, davon, daß beim Personal und bei der technischen Wartung rabiat eingespart wird ­ diese Zusammenhänge werden nicht gesehen, und sie werden in den Medien natürlich auch nicht erklärt. Und wenn dann die Gewerkschaftsvertreter auch noch ohne nachhaltigen Protest mitmachen, wenn diejenigen, die qua Funktion Widerstand leisten müßten, das nicht tun, dann macht's auch der Normalbürger nicht.

Ein wichtiger Punkt ist, daß es bei der Privatisierung eine ganze Reihe von Gewinnern gibt. Bei jeder Privatisierung werden ja betriebliche, unternehmerische Strukturen in vorherige staatliche Behörden eingezogen. Vorstände werden gebildet, Abteilungsleiter eingesetzt, die dann nach unternehmerischen Prinzipien, d.h. sehr viel besser, bezahlt werden. Gewerkschaftsfunktionäre werden dann Arbeitsdirektor im Vorstand der Post oder der Bahn. Und weil bei solchen Privatisierungen immer neue Tochterfirmen gegründet werden, gibt es viele neue Geschäftsführerposten, und alle diese neugegründeten Unternehmen haben Aufsichtsräte, in die Politiker gewählt werden. Leute, die im Staat oder in der Kommune eine Verwaltungsfunktion haben, können sich da erheblich verbessern, die können ihr Gehalt verdrei- oder vervierfachen. Das ist für viele doch ein schlagendes Argument.

Was kann man gegen diese Plünderung der öffentlichen Ressourcen unternehmen?

Wir sind ja noch in einer Phase, in der es gesetzliche Möglichkeiten gibt, dem Einhalt zu gebieten. Beispielsweise hat es vor kurzem ein Urteil des bayerischen Verfassungsgerichts gegeben, in dem gesagt wird, daß es nach dem GmbH-Gesetz ohne weiteres möglich ist, die Geheimhaltung aufzuheben und dann, wenn der Staat der Mehrheitseigentümer ist, auch zu beschließen, daß für die Sitzungen eines GmbH-Aufsichtsrates Öffentlichkeit hergestellt wird. Das ist alles im Rahmen unserer gesetzlichen Möglichkeiten ­ eigentlich. Ich bin ja gar kein prinzipieller Gegner von Privatisierung. Theoretisch könnte eine Stadt, die mit einem privaten Unternehmen wie RWE verhandelt, darauf bestehen, daß etwa die Beschlußgremien vor der Entscheidung die vollen Vertragstexte vorgelegt bekommen, es könnte Festlegungen über Mindestlöhne geben usw. Das könnte man alles machen.

Sie gehen in Ihren Büchern nicht von einer politisch-ökonomischen Großtheorie aus, sondern unternehmen es, empirisch die Mechanismen zu beschreiben. Was folgern Sie aber nun als Philosoph, der Sie ja auch sind, aus diesem Mosaik, das Sie da zusammengetragen haben?

Ich weigere mich noch, eine zusammenfassende Erklärung zu geben. Aber ich habe doch den Eindruck, daß wir dabei sind, in eine aggressive Form des Kapitalismus zurückzufallen, die alle diese relativen Mäßigungen im Interesse eines allgemeinen Wohlstands hinter sich läßt, die seit dem 19. Jahrhundert erkämpft wurden. Die richtigen Begriffe für diesen asozialen, frühkapitalistischen Zustand hab ich noch nicht. Oft wird gesagt: Manchester-Kapitalismus; in diese Richtung geht das. Menschheitsgeschichtlich stellt das eine absolute Katastrophe dar, weil eigentlich alle religiösen und politischen Systeme die Interessen der Mehrheit zum Tragen kommen lassen wollen oder zumindest den Zusammenhalt der Gemeinschaft befürworten, auch wenn sie in Klassen geteilt ist. Dieser Zusammenhalt, wie künstlich er bisher auch immer gewesen ist, droht dann natürlich zerstört zu werden.

Sie sprechen im Schlußkapitel Ihres Privatisierungsbuchs von der Notwendigkeit einer „demokratischen Revolution". Was verstehen Sie darunter?

Demokratie in staatlicher Form ist in Europa mit der Französischen Revolution entstanden, und dieser gut 200jährige Zyklus der Demokratiebewegung ist offensichtlich an ein Ende gekommen. Die Demokratie ist von anderen, grob gesagt: kapitalistischen Interessen instrumentalisiert worden. Der Kapitalismus hat sich sozusagen ein demokratisches Kleid umgetan, scheint demokratisch zu sein, aber gerade in dieser Phase ist das nur noch Schein, und die wesentlichen Prinzipien der Demokratie wie Gewaltenteilung, Transparenz, Interessen der Mehrheit usw. kommen nicht mehr zum Tragen. Deswegen muß die Demokratie wieder neu begründet werden ­ die Demokratie, deren Grundprinzipien ja eigentlich öffentlich von niemandem in Frage gestellt werden.

Interview: Florian Neuner

Werner Rügemer: Der Bankier. Ungebetener Nachruf auf Alfred Freiherr von Oppenheim. 2. geschwärzte Auflage. Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2006. 14 Euro

Werner Rügemer: Privatisierung in Deutschland. Eine Bilanz. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2006. 24,90 Euro

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