Ausgabe 05 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Nicht nur Stars wie Bahro, Biermann, Bohley

Ein materialpraller Sammelband mit Biogrammen zur
DDR-Opposition

Observationsfoto des MfS vom 9. April 1985. Gerd Poppe und Reinhard Weißhuhn auf dem Weg zur Arbeit im Diakonischen Werk. Abbildung aus dem besprochenen Band

Mehr als 15 Jahre nach dem Ende der DDR unternimmt der vorliegende Sammelband Für ein freies Land mit freien Menschen – Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos, herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk und Tom Sello, den zweifellos verdienstvollen Versuch, anhand von exemplarischen Biographien und bisher wenig oder gar nicht bekanntem Fotomaterial die verschiedenen Phasen der Oppositionsbewegung in der DDR zu dokumentieren.

Zugrunde liegt der Edition die wesentlich weitreichendere „Idee, ein Oppositionshandbuch für den gesamten früheren Ostblock zu erarbeiten". Diese ist vor einigen Jahren „im polnischen Zentrum ,Karta', einer unabhängigen Institution, die sich mit Zeitgeschichte beschäftigt und aus der polnischen Opposition hervorging", entstanden. Da sich die Realisierung des Gesamtprojekts jedoch aus verschiedenen Gründen verzögerte, hat sich der deutsche Ansprechpartner von „Karta", die Robert-Havemann-Gesellschaft, entschlossen, in einem ersten Teilschritt die bisher vorliegenden deutschen Beiträge in einer erweiterten Form zu publizieren.

Den Ausgangspunkt bilden mehr als 70 Biogramme, also biographische Skizzen, denen jeweils ein „Porträtfoto sowie drei weitere Fotos beigefügt" wurden, wobei viele Fotos anhand längerer Bildunterschriften „nochmals neue Geschichten erzählen". Diese Biogramme wurden insgesamt zehn thematischen Blöcken zugeordnet, deren Titel vom „Widerstand in der SBZ" bis zu „Die Revolution von 1989" einerseits chronologisch den Bogen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der DDR spannen, andererseits aber mit Titeln wie „Das Wort als Waffe. Schriftsteller gegen die Diktatur", „Christen, Schutzdächer und der Geist des Protestantismus" oder „Wehrdienstverweigerung, Bausoldaten und unabhängige Friedensbewegung" auch auf bestimmte Gruppen und Milieus eingehen.

Neben der Einleitung, in der Widerstand und Oppositionsbewegung in der DDR in ihrer Gesamtheit dargestellt und im historischen Kontext verortet werden, ist auch jedem thematischen Kapitel eine kurze Einführung vorangestellt. Darin werden jeweils die entsprechenden Hintergrundinformationen gegeben, so daß die nachfolgenden Biogramme nicht lose und unverbunden, sondern als exemplarische Lebenswege einer bestimmten Epoche bzw. einer bestimmten politischen Konstellation gelesen werden können.

Beeindruckend ist dabei vor allem die Materialfülle, mit der das Thema aufgefächert wird. Auch wenn klar ist, daß in solch einem Handbuch die Lebenswege der prominenteren Vertreter der DDR-Opposition nicht fehlen dürfen, bilden sie jedoch nicht das Gros der Einträge. Ohne die Bedeutung der Einzelnen zu schmälern, wird sehr anschaulich deutlich, daß es über „Stars" wie Bahro, Biermann, Bohley usw. hinaus sehr viele andere gab, die aus verschiedenen Gründen nicht im Zentrum des medialen Interesses standen und deren Namen bis heute kaum jemand kennt, der sich nicht intensiv mit der Problematik auseinandersetzt oder gesetzt hat.

Inhaltlich lassen sich in diesem Zusammenhang zwei Akzente erkennen: Zum einen wird ein besonderes Augenmerk auf den Widerstand in den Anfangsjahren der DDR gelegt, der im Aufstand vom 17. Juni 1953 seinen Höhepunkt hatte. Zum anderen ­ und das äußert sich auch in der Anzahl der versammelten Biographien ­ gilt den 80er Jahren, also dem letzten Jahrzehnt der DDR, besonderes Interesse.

Anhand der vorgestellten Lebenswege läßt sich ersehen, auf welche Art und Weise sich der Widerstand ausgedrückt hat und wie sich diese Formen mit der Zeit gewandelt haben. Dies gilt auch für die Reaktionen der DDR-Führung. Während in den 50er Jahren einzelne in Schauprozessen zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden, um dadurch eine abschreckende Wirkung zu erzielen, waren die Methoden in den 80er Jahren subtiler: Man hoffte, die Oppositionsbewegung durch die gezielte Unterwanderung mit Stasispitzeln unter Kontrolle halten zu können. Deutlich wird dies allerdings nicht so sehr anhand der Biogramme, sondern läßt sich eher aus den beigegebenen Fotos ersehen, in deren Bildunterschriften neben den Namen von Oppositionellen häufig auch die enttarnter IMs genannt werden. Diverse Observationsfotos des MfS belegen die Allgegenwart der Stasi ebenfalls sehr eindrücklich.

In der Fülle all dieser aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragenen Fotos zeigt sich eine weitere Stärke des Bandes, wenn es nicht sogar seine herausragende Qualität ist. Über die kurzen, gut lesbaren Texte der Biogramme hinaus geben sie Einblicke in einen Lebensalltag des realexistierenden Sozialismus, der zwar keine heile Parallelwelt war, aber doch so weit wie eben möglich versuchte, zur herrschenden Diktatur des Proletariats Alternativen zu entwickeln.

Carola Köhler

> Ilko-Sascha Kowalczuk/Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin 2006. 25 Euro. Das Buch kann auch direkt bei der Robert-Havemann-Gesellschaft bestellt werden, www.havemann-gesellschaft.de, fon: 44710810/-13

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