Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Vom heimlichen Hauptbahnhof zum heimlichen Ostbahnhof

Der Bahnhof Lichtenberg ist nur noch zweitklassig

Was dem Bahnhof Zoo nach der Eröffnung des neuen Hauptbahnhofs am 28. Mai bevorsteht – die Degradierung vom umtosten Fernverkehrsknotenpunkt zu einer marginalen Haltestation für Dorf- und Hinterhoftrassen –, hat ein anderer vormals bedeutender Berliner Bahnhof schon länger hinter sich: der Bahnhof Lichtenberg. In den achtziger Jahren noch der wichtigste Bahnhof Ost-Berlins, wurde Lichtenberg in den neunziger Jahren, auch infolge der Modernisierung der Stadtbahn und der daraus resultierenden besseren Verbindung des Ostbahnhofs zu den Bahnhöfen im Westen der Stadt, Schritt für Schritt vom Fernverkehr abgeschnitten.

1881 erbaut, war der Lichtenberger Bahnhof zuerst auch nur ein relativ unbedeutender, geradezu kümmerlicher „Personen- und Rangierbahnhof". Nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aber nach dem Mauerbau benötigte Ost-Berlin jedoch neben dem Ostbahnhof einen weiteren, zentralen Haltepunkt. Deshalb wurde Lichtenberg bis 1980 kontinuierlich zu einem modernen Fernbahnhof mit Bahnhofskneipe, Restaurant, Zeitungskiosk und Blumenladen ausgebaut ­ und mutierte zum eigentlichen Hauptbahnhof in der östlichen Hälfte der Stadt. Es wimmelte seinerzeit von Reisenden, die sich vor den Fahrkartenschaltern gegenseitig auf den Füßen standen, sich in bzw. vor der Kneipe stauten (weil dort auch die herumlungerten, die geringes Interesse am Reisen zeigten) oder sich auf den Bahnsteigen mit ihren zu groß geratenen Gepäckstücken umrannten. Der Lichtenberger Bahnhof besaß mit S- und U-Bahnstation eine weitaus bessere Verkehrsanbindung als der Ostbahnhof. Trotzdem wurde dieser 1987 zum Hauptbahnhof umgewidmet ­ nicht Lichtenberg.

In den Neunzigern begann dann der langsame Abstieg, der fortwährende Wegfall von Fernverkehrslinien, der Bedeutungsverlust. Heute sieht man im Lichtenberger Bahnhof kaum noch genervte Reisende mit übergroßen Taschen, sperrigen Koffern oder schweren Rucksäcken, eher Omas mit beim Discounter gefüllten Plastiktüten, glückliche Kleinfamilien samt Kinderwagen, müde Arbeiter mit einem Bier, aufgeregte Mädchen mit einem Hamburger in der Hand ­ und ganz gewiß keine herumlungernden Penner und Säufer auf Absturzkurs.

Der Bahnhof Lichtenberg hatte bis zu seiner Renovierung Ende der Neunziger noch etwas durchaus Eigenes (und dazu gehörte eben auch der Uringeruch im Untergeschoß und das etwas merkwürdige Volk, das sich dort herumtrieb). Heute hat er so gut wie gar nichts mehr: Er sieht aus wie all die anderen Shopping Malls mit Gleisanschluß. Statt der bis in die frühen Morgenstunden geöffneten Kneipe im Untergeschoß ­ ein Treffpunkt von auf den Zug wartenden Reisenden und auf den Vollrausch wartenden Trinkern ­ und dem bizarren Restaurant oberhalb der Bahnhofshalle gibt es nunmehr McDonald's und verschiedene gesichtslose Imbisse, inklusive der in den modernisierten Berliner „Bahnhöfen" offenbar unvermeidlichen Filialen der Freßketten CroBag, Ditsch und Heberer. Rossmann hat sich natürlich auch angesiedelt, dazu ein Discounter, ein Kiosk voller Ostalgie-Plunder und anderem überflüssigen Brillen-Jacken-Straß-Quatsch, obendrein ein billig-biederes „Erotikfachgeschäft". Fast alles wie andernorts in den Bahn AG-Immobilien, nur zweiter Klasse.

Gleichwohl, ganz so schlimm wie den Bahnhof Zoo, der ab Ende Mai nurmehr als Haltestelle für Regionalzüge fungiert, hat es Lichtenberg nicht getroffen: Von hier aus fahren nicht nur Nahverkehrsbahnen nach Tiefensee, Werneuchen, Wriezen und Templin, sondern nach wie vor auch Schnellzüge in die Metropolen des Ostens, nach Warschau, Kiew, Moskau, bis nach Asien, ins 5500 Kilometer entfernte Nowosibirsk. Dann füllen sich die Bahnsteige auch wieder mit Reisegästen, die riesige Taschen und Koffer mit sich schleppen. Nachdem er in den Achtzigern als der „heimliche Hauptbahnhof" galt, ist der Bahnhof Lichtenberg nun zum „heimlichen Ostbahnhof" avanciert.

Roland Abbiate

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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