Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Leiden an unerwünschtem Publikum

Mit der Bahn gehen auch die Bahnhöfe vor die Hunde

Die Leipziger stürmen ihren Hauptbahnhof, weil dort auch am Wochenende eine Aldi-Filiale bis 22 Uhr geöffnet hat. Auch Lidl am Berliner Ostbahnhof hat genügend Kunden. Einkaufszentren mit Gleisanschluß florieren. Wer weiß nicht mitunter die Einkaufsmöglichkeiten am Bahnhof zu schätzen, den Bahnhofsbuchhandel mit dem großen Zeitschriftenangebot? Indes gibt es darüber hinaus immer weniger Gründe, freiwillig Bahnhöfe aufzusuchen. Das Angebot der Deutschen Bahn AG wird immer schlechter und für immer weniger Menschen bezahlbar. Die Flugreise auf lächerlich kurzen Inlandsstrecken ist kein Luxus, das ist mittlerweile die Fahrt mit dem ICE oder Intercity. Unvorstellbar auch, daß Bahnhofsrestaurants – wie häufig in der Schweiz – beliebte Treffpunkte sein können, die aufsucht, wer gar keine Wartezeit zu überbrücken hat. Ich bin mir nicht sicher, ob Politik und Management die ehemalige Bundesbahn aus Unfähigkeit und Dummheit an die Wand fahren oder ob dahinter eine abgekartete Strategie steckt – damit am Ende nach so viel Ärger und Unzufriedenheit alle befreit aufatmen, wenn es endlich zur Zerschlagung und Totalprivatisierung nach britischem Muster kommen wird.

Jedenfalls werden die Bahnhöfe zu immer unwirtlicheren und unangenehmeren Orten. In Baden-Baden gibt es trotz ungünstigster, zentrumsferner Lage kein Bahnhofsrestaurant mehr; in Bochum ist nach der Sanierung die Bahnhofskneipe „Charly's Bummelzug" durch einen McChicken-Imbiß ersetzt worden; im badischen Achern ­ immerhin ein Umsteigepunkt ­ findet der Reisende im neuerrichteten Bahnhof am Abend nicht einmal mehr einen überdachten Aufenthaltsraum und muß in der Kälte warten. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Die Bahn sperrt ihre Kunden aus, diszipliniert und maßregelt sie ­ etwa mit sinnlosen Rauchverboten auf offenen Bahnsteigen.

Willkommen sind im deutschen Bahnhof nur Kunden ­ wenn sich denn, wie in Köln oder Leipzig, dort eine Shopping Mall rentiert. Und selbst dort findet der Reisende keine Orte, die zum Verweilen einladen, sondern nur Stehcafés und Fast Food, beschallt mit Horror-Muzak. Niederlassen kann man sich nur mit einem Ticket erster Klasse in der DB-Lounge. Die nächste Stufe dieser Entwicklung kann man in den USA bereits besichtigen: Viele alte Bahnhöfe sind dort inzwischen Einkaufszentren ohne Gleisanschluß. Der damalige Bahnchef Heinz Dürr brachte die DB-„Unternehmensphilosophie" schon vor zehn Jahren in einem Grußwort zum Bahnhofsguide Deutschland mit zynischer Unverfrorenheit zum Ausdruck, indem er den Architekten William White zitierte: „Der beste Weg, mit unerwünschtem Publikum umzugehen, besteht darin, den Ort für alle anderen Nutzer möglichst attraktiv zu machen." Unerwünschte Nutzer, das sind für die Bahn AG mittlerweile offensichtlich alle mit Ausnahme von Passagieren der ersten Klasse im ICE.

Unter Heinz Dürr versuchte die Bahn auch, assistiert vom Architekten Meinhard von Gerkan, eine neue Bahnhofskultur herbeizureden und zeigte auf der Biennale von Venedig 1997 die Ausstellung Die Renaissance der Bahnhöfe ­ eine PR-Offensive zur Propagierung von Projekten wie „Frankfurt 21", der Verlegung des Frankfurter Hauptbahnhofs unter die Erde. Die Bahn wolle, wie es generös hieß, der Stadt die zentral gelegenen Bahnareale „zurückgeben" ­ was in Wirklichkeit freilich nur heißen konnte, daß man sich Immobiliengeschäfte versprach und etwa die Frankfurter City um ein paar leerstehende Bürohäuser bereichern wollte. Das Projekt scheint inzwischen gestorben, und auch den Münchner Hauptbahnhof wird man so schnell wohl nicht unter die Erde verlegen.

Im Katalog zur Ausstellung machte Meinhard von Gerkan sich zum Büttel der an die Börse strebenden Bahn AG und entblödete sich nicht einmal, gegen unerwünschte Nutzer zu hetzen: „Solange Bahnhöfe Zentren der Rotlichtviertel, Brennpunkte der Drogenszene und Treffpunkte sozialer Außenseiter bleiben, solange werden diese Erscheinungen eine hohe psychologische Barriere gegenüber dem Bahnverkehr darstellen und dessen soziale Akzeptanz schwer belasten." Es liegt also an den schmutzigen Bahnhöfen, daß der Bahn die Fahrgäste davonlaufen, und nicht am unzureichenden Angebot oder gar an den Fahrpreisen! Den bunten Computersimu -lationen der Bahnhöfe des 21. Jahrhunderts haben die Katalogmacher suggestiv schlimme Bilder von Schmuddelecken und Pennern gegenübergestellt. Und der Bahnhof Hamburg-Altona, der Kaufhof mit Gleisanschluß, wird scheinheilig als besonders schlimme Bausünde der Siebziger hingestellt. In Wahrheit ist er nur ein architektonisch vielleicht etwas plumperer Vorläufer heutiger Shopping Mall-Bahnhöfe.

Viele hochfahrende Projekte aus dem Renaissance-Katalog sind inzwischen auf Eis gelegt. In letzter Zeit wurden bezeichnenderweise nur Flughafen-Bahnhöfe wie Frankfurt oder Köln/Bonn fertiggestellt. Von Gerkan fungiert inzwischen nicht mehr als Propagandist der DB, sondern streitet mit dem Unternehmen vor Gericht, weil es seinen Lehrter Bahnhof so dreist verstümmelt hat. Und wenn der Berliner Zentralbahnhof nicht als Investitionsruine enden soll, dann müßte man doch eigentlich die Etablierung eines ordentlichen Rotlichtviertels in seinem öden Umfeld fördern. Denn wie lange will sich die Metropole da noch von Käffern wie Hannover oder Frankfurt am Main übertrumpfen lassen?

Florian Neuner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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