Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Menschen und Mülltonnen

Die Berliner Spaziergänge des Antonín Dick

„Ein Mensch betritt eine Stadt. Fällt hinein. Strudelt. Forscht. Wandert und –" Der Leser stutzt, noch einmal läßt er die Wörter an sich vorbeiziehen und merkt dann, daß diese Irritation gewollt ist. Es ist wahrlich keine gefällige Lyrik, die Antonín Dick auf über 100 Seiten ausbreitet. Die Zeilen dienen nicht der Erbauung, sondern eher der Verunsicherung im positiven Sinne. Denn Dick schreibt über das Berlin unserer Tage. Es sind ganz alltägliche Beobachtungen, die er bei seinen Streifzügen durch die Straßen notiert und in Worte faßt. Er versteht es, Alltagserfahrungen so aufzuschreiben, daß sie nicht banal klingen, sondern vielleicht sogar einen Schrecken beim Leser hinterlassen.

„Hinter einer Mülltonne tritt ein Mensch hervor" ­ ein Satz, der schnell gelesen ist und doch viele Fragen aufwirft. Es sind nicht die scheinbar rund um die Uhr erreichbaren Vertreter der Internet-Generation, die hier vorgestellt werden. Es sind Menschen, denen Dick auf seinen Stadtspaziergängen begegnet, Menschen, die Verlusterfahrungen durchgemacht haben, die noch wissen, was Schmerz ist. Er führt uns in eine Welt, in der die Menschen auf der Suche sind: nach etwas zu essen, dem Sinn des Lebens, nach etwas Glück, manche vielleicht auch nach ihrer Rolle in der Geschichte. Dick bleibt bei seinen Spaziergängen nicht an der Oberfläche. Er blickt hinter die Maske aus Coolness, die die Menschen im Alltag gerne aufsetzen. Die verspiegelten Sonnenbrillen, hinter denen viele Zeitgenossen heute ihre Gesichter verbergen, können ihn nicht blenden: „Drehe mich im Gedränge noch einmal um/Verspreche mich,/und das auch noch laut."

Dick versteht es auch, die unausgesprochenen Ressentiments im Berlin der Gegenwart an die Oberfläche zu holen. Das bedrohliche Gefühl, das einen beim Lesen oft nicht verlassen will, hat genau in diesem Wissen seinen Ursprung. Hier beobachtet jemand sehr genau, hier blickt jemand auf die Gegenwart, der an den deutschen Verhältnissen gelitten hat.

Als Sohn jüdischer Emigranten ist Antonín Dick in Großbritannien geboren, kam als Theaterregisseur früh mit den DDR-Bürokraten in Konflikt, reiste in den Westen aus, wo er es sich allerdings nicht als Dissident im Ruhestand bequem machte. Mit seinem 1991 gegründeten Jakob-van-Hoddis-Theater nahm er in seiner künstlerischen Arbeit immer wieder Stellung gegen Rassismus und Antisemitismus. Der expressionistische Dichter und passionierte Berlin-Spaziergänger Jakob van Hoddis kann als großes Vorbild auch für diesen Lyrikband gelten. Die Kreidezeichnungen von Christine Niederlag harmonieren hervorragend mit Dicks Lyrik ­ eine wunderbare Gemeinschaftsarbeit.

Peter Nowak

>> Antonín Dick und Christine Niederlag: Berlinische Zeichen – Die Entdeckung einer Stadt, Tenea Verlag, Berlin 2005. 14,90 Euro

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