Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Road-Movie für Rollstuhlfahrer

Benoît Delephines und Gustave Keverns Spielfilmdebüt Aaltra

Das allseits beliebte Genre des Road-Movies hat eine Bereicherung erfahren, und zwar durch einen Rollstuhl-Straßenfilm: Aaltra heißt das französische Kleinod in Schwarzweiß, und wer beim Titel sofort an finnische Wortkargheit denkt und skurrile Situationen, hat recht.

Schon seit Jahren liegen sich zwei nordfranzösische Bauern in den Haaren und machen sich das Leben schwer. Bis sie eines Tages während einer Rauferei unter einen Traktor-Anhänger der Marke Aaltra geraten und später nebeneinander in einem Krankenhauszimmer aufwachen. Plätze in anderen Zimmern sind nicht frei, und nach einer Nacht auf dem Flur arrangiert man sich. Ein Orthopäde kommt und pocht an ihnen simultan herum, eine Stereo-Untersuchung, um herauszufinden, ob die Nervenstränge der Beine gänzlich abgeklemmt sind. Dabei klopft dieser auch schon mal auf seine eigenen oder das Bettgestell. „Hier?" fragt er jedes Mal. Immer antworten die beiden mit: „Nein." Es ist nichts mehr zu machen, Querschnittslähmung. Sie werden aus dem Krankenhaus entlassen.

Zu Hause wartet jedoch niemand auf diese grantigen Miesepeter. Man weiß noch nicht einmal genau ihre Namen. Reden tun sie auch kaum. Und nachdem auch noch ihre Selbstmordversuche scheitern, macht sich jeder auf eine Reise. Der Motorradfreak will nach Namur zum Rennen, der andere nach Finnland, um die Traktorfirma auf Schmerzensgeld zu verklagen. Aber da es das Schicksal ­ also die Filmemacher ­ so will, müssen sie gemeinsam reisen, zuerst nach Namur, dann nach Finnland, immer den Straßen nach, Richtung Norden.

Die Filmemacher heißen Benoît Delephine und Gustave Kevern und sind in Frankreich bekannte Fernseh-Comedians, die mit Aaltra ihren ersten Kinospielfilm realisiert haben. Dabei sind sie Regisseure, Drehbuchautoren und Hauptdarsteller in einem. Sie lassen ihre beiden Figuren ­ einen Choleriker und einen Stillen ­ durch die Länder nach Finnland fahren und Menschen begegnen, deren konventionelle Anteilnahme sie weidlich ausnutzen. Obwohl sie im Rollstuhl sitzen, kann man mit diesen Typen kein Mitleid haben. Zu rücksichtslos und selbstgerecht treten sie auf. Von dankbarer Zurückhaltung keine Spur: Sie laden sich selber bei einer niederländischen Familie ein, die sie im Wohnwagen mitnimmt, und räumen deren Kühlschrank aus. Die Vorräte einer deutschen Familie werden auch stark dezimiert. Dazu verlangen sie noch eine Übernachtungsmöglichkeit, als wäre das ihr gutes Recht. Sie strapazieren ihre Umwelt als „Schrecken der Landstraße", womit sie es natürlich übertreiben. So passiert es schon mal, daß sie am Strand „vergessen" werden, während die Flut steigt.

Ihre Charaktere haben etwas von klassischen Cartoon-Figuren, die auch die brenzligsten Situationen scheinbar schadlos überstehen. Dazu kommt noch ein wenig Klischee-Lokalkolorit wie ein Karaoke-singender finnischer Biker oder Deutsche, die sogar das Kopfsteinpflaster staubsaugen. Man muß total unkorrekt über diese Typen im Rollstuhl lachen und natürlich auch über die Leute, die sie treffen und damit über sich selbst. Witzig ist dieser Film, zynisch und ein wenig melancholisch und hat somit alles, was eine gute Komödie ausmacht.

Ingrid Beerbaum

>> „Aaltra" kommt am 4. Mai in die Kinos.

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