Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Einsame Wanderungen durch Berlin

So etwas wie einen Hörbuchmarkt hat es bis vor wenigen Jahren noch gar nicht gegeben. Heute stapeln sich in den Buchläden die CDs, auf denen irgendwelche Autoren ihre Kriminalromane vorlesen, oder noch schlimmer: Otto Sander irgendwelche Gedichte. Man fragt sich schon, wer sich das alles freiwillig anhören soll, mal abgesehen von Sehbehinderten, für die der Trend ein Segen sein mag.

Es gibt freilich nur wenig Literatur, die auf eine akustische Umsetzung hin angelegt ist bzw. durch eine solche tatsächlich gewinnt. Meist werden doch nur verzopfte Erzähler von ebenso verzopften Schauspielern dargeboten. Aus der trüben Flut der Hörbücher sticht nun eine CD hervor, die sich irgendwo zwischen Hörspiel und Spoken Poetry bewegt: Crauss hat mit campari & jazz eine CD vorgelegt, auf der er seine Gedichte nicht bloß vorliest, was er übrigens hervorragend versteht, sondern aus ihnen mit so sparsam wie klug eingesetzten Mitteln Mini-Hörspiele herstellt: Sich überlagernde Stimmen, Musik (von Jacques Brel bis Robbie Williams!) und Verkehrsmeldungen aus dem WDR ergeben schön komponierte, kleine akustische Tableaus, innerhalb derer nicht einmal Meeresrauschen kitschig wirkt.

Die Lyrik von Crauss ist für eine akustische Aufbereitung prädestiniert, ist sie doch schon in ihrer Machart musikalisch inspiriert: Er sampelt, stellt häufig von Gedichten mehrere Remix-Versionen her. Immer wieder dient für den in Siegen lebenden Autor Berlin als Projektionsfläche, und so finden wir auf der CD ein „bahnhof zoo poem" ebenso wie ein dem verflossenen „café anal" gewidmetes, in „ich und mein affe" wird die Hauptstadt gar zusammen mit diesem Tier bereist. Neben der „Großstadtlyrik" mit ihren harten Schnitten steht aber auch Ruhiges, Melancholisches, etwa das Nachdenken über eine zu Ende gegangene Beziehung, mitunter sogar Gereimtes. Aber man muß das hören.

hb

>> Crauss: campari & jazz. Handverlag, Siegen 2005. Bestellungen unter: handverlag@web.de

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