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Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1906

27. April bis 31. Mai

Die Maifeier der Sozialdemokratie findet in erheblichem Umfang statt. Einige Fabriken stehen infolge des Fehlens der Arbeiterschaft still, in den Außenbezirken haben kleinere Geschäftsleute ihre Läden geschlossen, weil sie sich den Feiernden anschließen. Für 10 Uhr vormittags sind seitens der verschiedenen Gewerkschaften über 70 Versammlungen in Berlin und den Vororten einberufen. Die Räume sind zum Teil überfüllt. Sämtliche Referenten sprechen über das Thema: „Die Bedeutung des 1. Mai und das Wahlrecht der Arbeiter". In der überall angenommenen Resolution heißt es: „Die Versammelten betrachten die klassenbewußten Proletarier aller Länder als Kampfgenossen, mit denen sie gemeinsam für die Völkerverbrüderung, für die Erhaltung des Friedens und Förderung des Kulturfortschrittes kämpfen. Die Versammelten erklären, einzutreten für die Befreiung der Arbeiter von jeglicher Ausbeutung und jeglicher Unterdrückung. Die Versammelten fordern eine wirksame Arbeiterschutzgesetzgebung, mit der mindestens bewilligt werden muß: ein höchstens acht Stunden dauernder Normalarbeitstag, eine mindestens 36 Stunden dauernde Ruhepause für jeden Arbeiter in jeder Woche, Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder im Alter von unter 14 Jahren. Die Versammelten fordern die rechtliche Gleichstellung aller Arbeiter ohne Unterschied des Geschlechts. Da die Rechte der Arbeiter nur dann sichergestellt sind, wenn die Arbeiter ihre Rechte selbst vertreten, so fordern die Versammelten: allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht mit geheimer Stimmabgabe für alle über 20 Jahre alten Personen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen."

Direktor Fritz Zschiegner, der vorübergehend Leiter des Apollo-Theaters war und sich durch die Erfindung des Luftballetts Ruhm erworben hat, verstirbt in einem Charlottenburger Sanatorium an den Folgen einer durch eine Lebererkrankung notwendig gewordenen Operation. Seine Gattin ist die bekannte Luftfee Preziosa Grigolatis, die mit ihrer Luftballetttruppe fast die ganze Welt bereist und überall Anerkennung gefunden hat.

Vertreter der jüdischen Gemeinde, der Deutschen Konferenzgemeinschaft der Alliance Israélite Universelle und des Hilfsvereins der Deutschen Juden treffen sich mit dem Minister des Innern, von Bethmann-Hollweg. Thema der Besprechung ist die jüngste Ausweisung russischer Juden. Der Minister erklärt, daß er bei der Ausführung der von ihm als notwendig erkannten Maßregel jede humane Rücksicht walten lassen wolle, daß es sich bei den Ausweisungen insgesamt um etwa 5500 Personen jüdischen Glaubens handle, die sich seit dem Jahr 1904 in Berlin neu angesammelt hätten. Von unmittelbarer Ausweisung sollen nur mittel- und ausweislose sowie politisch verdächtige Personen betroffen sein. Die Zahl der zu dieser Kategorie gehörigen Personen betrage etwa 700. Eine Entscheidung darüber, ob und wie weit die seit dem Jahre 1904 hier zugezogenen russischen Arbeiter, die ausreichenden Unterhalt gefunden und sich einwandfrei geführt hätten, unter die Kategorie der hier zu belassenden Russen aufzunehmen wären, behält sich der Minister vor.

Bei Regensburg sieht der Zugführer des D-Zuges München-Berlin, Kraus, einen stillstehenden Güterzug auf seinem Gleis, er bremst mit aller Gewalt, wodurch der Zusammenprall gemildert wird. Unter furchtbarem Getöse, das drei Kilometer weit gehört wird, stößt die Maschine des D-Zuges auf den anderen Zug auf. Von letzterem gehen zehn Wagen in Trümmer, vom D-Zug werden die Lokomotive, Gepäck- und zwei Personenwagen schwer beschädigt. Lokomotivführer Kraus, der beim Zusammenstoß absprang, sowie ein Postbeamter und ein Schlafwagenschaffner erleiden leichte Verletzungen.

Ein Berliner Herr befand sich im Schlafwagen des verunglückten Zuges und lag beim Zusammenstoß in tiefstem Schlaf. Beim Umsteigen der Fahrgäste in den Hilfszug vergißt man ihn. Als am nächsten Morgen Bahnarbeiter und Feuerwehrleute den auf dem zerstörten Gleis liegengebliebenen Schlafwagen wieder betriebsfertig machen wollen, meldet sich der vergessene Fahrgast. Er macht große Augen, als er sich anstatt in Berlin an der Trümmerstätte auf einem bayerischen Bahnhof sieht.

Falko Hennig

>> Radio Hochsee, Themenabend „Punk in China" mit Jochen Schmidt und Rupprecht Mayer am 31. Mai um 20.30 Uhr im Kaffee Burger, mehr unter www.Falko-Hennig.de

Foto: Archiv Hennig

Zugführer Kraus bremst mit aller Gewalt, wodurch der Zusammenprall gemildert wird.

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