Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Mehdorns schillerndes Monsterbaby

Man nimmt, was man bekommt ­ auch den neuen Hauptbahnhof

Wenn der neue Hauptbahnhof am 28. Mai mit viel offiziellem Tamtam eingeweiht wird, ist nach achtjähriger Bauzeit ein weiteres Prestigeprojekt fertiggestellt, das alle typischen Merkmale der Berliner Hauptstadtplanung der neunziger Jahre aufweist: Größenwahn aufgrund überzogener Metropolenerwartungen, Überdimensioniertheit, explodierende Kosten, Bauzeitverlängerung, Fehlplanungen, Pannen, Rechtsstreitigkeiten.

Die Entscheidung für den Bau des neuen Bahnhofs hatten Deutsche Bahn und der Berliner Senat bereits 1992 gefällt. Vorausgegangen war der Streit um die Frage, ob ein Achsenkreuz- oder ein Ringbahnkonzept für den Bahnverkehr in der wiedervereinigten Stadt besser sei. Kritische Verkehrsplaner hatten damals vor einer Zentralisierung durch den Ausbau des Lehrter Bahnhofs gewarnt – es wäre der erste Zentralbahnhof in der Geschichte der polyzentralen Stadt. Schließlich wurde das sogenannte Pilzkonzept als Kompromiß verkauft. Die Formel lautete „fünf plus zwei": Die Züge sollten sowohl an den alten Bahnhöfen Zoo, Ostbahnhof, Spandau und Lichtenberg halten als auch an den neuen Stationen Hauptbahnhof, Gesundbrunnen und Papestraße, um sowohl eine Nord-Süd-Verbindung herzustellen als auch die – für Berlin wichtigere – Ost-West-Achse einzubinden.

Erst im Sommer letzten Jahres, kurz vor der Fertigstellung des neuen Bahnhofs, ließ DB-Chef Hartmut Mehdorn die Bombe platzen: Plötzlich hieß es, daß künftig am Zoo keine ICEs mehr halten würden, da sich der Fernverkehr auf den Hauptbahnhof konzentrieren und über die Nord-Süd-Verbindung Gesundbrunnen-Südkreuz-Spandau geführt werden solle. Die Überraschung war gelungen, die Berliner Politik wenig amüsiert, das alte Westberlin sauer wegen der Degradierung des Bahnhofs Zoo.

Die eigentliche Ursache dieser Zentralisierung durch die Hintertür dürfte im Berliner Größenwahn der frühen Jahre nach der Wiedervereinigung zu suchen sein. Rund um den Lehrter Bahnhof sollte ein neuer, 30 Hektar großer Stadtteil entstehen, zudem wurden unter dem Tiergarten und unter der Spree vier 3,4 Kilometer lange Bahntunnel-Röhren sowie ein Auto- und ein U-Bahntunnel geplant. Nun müssen die teuren Verkehrswege auch ausgelastet und die Flächen rund um den gigantischen Neubau mit seinen fünf Ebenen vermarktet werden.

Allein der Bau der Tiergartentunnel, der 1995 begonnen und erst in diesem Jahr abgeschlossen wurde, geriet zum Debakel. Für die Baugruben mußte das Bett der Spree vorübergehend verlegt werden, wegen Wassereinbrüchen in den Tunnels kam es zu Bauverzögerungen, die Kosten allein für die Gleisanlagen stiegen von den ursprünglich veranschlagten knapp zwei auf drei Millionen Euro. Und für das 1994 nach Plänen von Oswald Mathias Ungers konzipierte Viertel mit zwei Wohnquartieren, Hotel, Büroturm und 1200 Stellplätzen gab es Ende der Neunziger schlicht keinen Bedarf mehr: Investoren winkten angesichts des kollabierten Berliner Immobilienmarktes nur noch ab. Die Planungen mußten schließlich deutlich abgespeckt werden. Noch immer ist das Bahnhofsumfeld eine Wüste, von dem geplanten „lebendigen, großstädtischen Quartier" (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung) nichts in Sicht.

Nun will die Vivico, das Immobilienunternehmen der Bahn, dem die meisten Grundstücke gehören, mit der Entwicklung des Umfelds beginnen ­ und einen Architektenwettbewerb ausloben. Am südlichen Vorplatz sollen drei Gebäude mit 50000 m2 Fläche für Büros, Läden, Gastronomie und ein Hotel entstehen. Nördlich des Bahnhofs war ursprünglich ein 150 Meter hoher Büroturm vorgesehen. Daß sich die Vivico um die Vermarktung Sorgen machen muß, ist angesichts wachsender Leerstände am Potsdamer Platz nachvollziehbar. Der Bedarf an neuen „großstädtischen Quartieren" hält sich derzeit in Grenzen. Die Bahn ist ja schon froh, daß zumindest die 15000 m2 Gewerbeflächen im Bahnhof selbst vermietet sind. Über die Gesamtbaukosten des Bahnhofs schweigt sich die Bahn geflissentlich aus, sie werden auf 700 Millionen Euro geschätzt.

Auch sonst sorgte das Großprojekt für Spott und Ärger. Die ursprünglich für 2000 geplante Fertigstellung des Bahnhofs verzögerte sich um Jahre. Damit er zumindest zur Fußball-WM 2006 in Betrieb genommen werden kann, kürzte Mehdorn 2002 das Glasdach einfach um ein Drittel. Leider waren die nun nicht mehr benötigten Glasplatten alle schon gefertigt. 2005 schließlich platzte dem Bahnhofsarchitekten Meinhard von Gerkan endgültig der Kragen, als Mehdorn im Untergeschoß statt der von Gerkan geplanten Gewölbedecke ein Flachdach bauen ließ – aus „Zeit- und Kostengründen". Gerkan zog vor Gericht, sogar der Kanzler wurde eingeschaltet.

Daß „Europas größtes Eisenbahnkreuz" nahverkehrstechnisch noch nicht so gut erreichbar ist, ist wiederum dem Land Berlin zu verdanken: Das Planfeststellungsverfahren für die Straßenbahn von Nordosten über Bernauer und Invalidenstraße zum Bahnhof mußte nach Anliegerprotesten neu aufgerollt werden, einstweilen endet die Trasse an der Invalidenstraße, während man vom Bahnhof aus mit der „Kanzler-U-Bahn" bereits beachtliche 600 Meter bis zum Paul-Löbe-Haus fahren kann ­ zumindest theoretisch, denn die BVG weigert sich, die Ultrakurzstrecke zu betreiben. Daß auch die Nord-Anbindung durch die S-Bahn noch nicht fertig ist, ist da nur konsequent.

Macht ja nichts. Die Berliner sind chaoserprobt und durch explodierende Baukosten, scheiternde Großmannsträume und Investorenwüsten längst nicht mehr zu erschüttern. Sie sind überaus tolerant und haben sich ein gewisses kindliches Gemüt bewahrt. Sie werden auch Mehdorns schillerndes Monsterbaby annehmen und lieben.

Susanne Torka/Ulrike Steglich

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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