Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

ditte & menschenkind

Seid bereit!

Eile ist geboten. Menschenkind beschleunigt seine Gedanken und die daraus folgenden Taten von 0 auf 100 in einer Sekunde. Da kann er nicht erzählen, wie die letzte Folge schloß, mag nicht das Dilemma mit dem eingeschmolzenen Ernst-Thälmann-Kopf von Ziegenhals aufwärmen, weil er handeln muß, sonst liegt hinter den Bergen Damaskus mit dem dazugehörigen Schwert, das über einem armen Sünder schwebt, was in diesem Fall der gepriesene und verfluchte atonale Tonsetzer Conradt Koch-Kämmnitzsch (kurz CKK) ist. Vermutlich schmiegt er sich noch immer an Dittes Busen, während er, olle Menschenkind, herumhirschen muß in der Vergangenheit der Bronze-, Beton- und Gipsköpfe aus manchem Ehrenhain. Ja. Indessen tritt er turbotechnisch in die Pedale seines altindischen Bicycles, Eisenhans genannt – ein Fahrrad britischer Kolonialzeit aus schwerem Gußeisen, das den Vorteil hat, ist es einmal beschleunigt, saust es unaufhaltsam, auch in manch einen Abgrund. Ansonsten gibt es eigentlich nur Nachteile, die er aus Zeitgründen jetzt nicht aufzählen darf. Hoffentlich hat sich Ditte loseisen können.

Sie hatte versprochen, mit Erika Zuchthold im Schmargendorfer Gärtchen ein Stelldichein zu bewerkstelligen, wo er die Hinterlassenschaft der Thälmann-Pioniere bei einem seiner Streifzüge durch die Kleingartenparadiese des Berliner Großraums, will sagen, die Gartenkneipen, aufgestöbert hat. Die alte Erika, einstmals seine Pionierleiterin in seligen Zeiten, saß am Nebentisch und wollte ihn erst gar nicht erkennen. Als er das Weltjugend-Lied intonierte auf seiner Mundharmonika (fortan immer am Mann!), wandte sie sich ihm mit einem verklärten Lächeln zu und lispelte: „Menschenskind, du! Na, wenn das nicht das Schicksal wollte!" Vor solchen kleinbürgerlichen Moralvorstellungen hatte sie die Heranwachsenden damals zwar gewarnt ­ und er war ihr bis auf diesen Tag dankbar dafür ­, aber ein einziger Blick in ihre von Gram gezeichneten Gesichtszüge verriet ihm, daß sie vom Schicksal erwählt worden war. Wie es sie erhoben hatte, erfuhr er beim fünften Glas Bier, und dann zeigte sie ihm ihre Sammlung! Da standen sie, in ihrer mehrfach an- und umgebauten Laube, die Piecks und Thälmanns, die Lenins und sogar ein großer Kopf mit dem unverwechselbaren Oberlippenbart, dem bürstenähnlichen. Damals war er auf einen Schlag nüchtern geworden und hatte das Weite gesucht, Erikas Rufe im Rücken. „So bleib doch!" hatte sie hinter ihm hergerufen. „Du hast ja noch nicht alles gesehen." Beim vierten Glas Bier hatte sie ihm ihre Telefonnummer zugesteckt: „Besuch mich doch mal. Da können wir von alten Zeiten reden, und auch ein Gläschen ..." Den Rest hatte er schon nicht mehr verstanden.

Nun konnte Erika wirklich Schicksal spielen. Hoffentlich ist Ditte schon da und hat Erika bereits so weit im Griff mit ihrer Freundlichkeit, daß sie den Originalabguß vom Ziegenhalser Original rausrückt.

Das Gartentor der Schmargendorfer Anlage ist weit geöffnet. Vor dem Gärtchen von Zuchtholds steht ein Mini-Tieflader. Wo er doch extra Eisenhans gesattelt hat, auf dessen Gepäckträger er die 70 Kilo-Thälmannbüste bewegen kann, ohne daß sein Fahrrad eine Acht kriegt von der Last. Ditte schwebt auf ihn zu in einem Blütentraum von Kleid, so einem, das Frau in den sechziger Jahren hüben und drüben trug.

„Du bist die Designerin des Schicksals, mein Täubchen!" Einmal muß auch er sie drücken können, und so schmiegt er sich wie CKK an ihren Busen. Ja, wenn er etwas an CKK verstehen konnte, dann war es diese Anschmiegsamkeit. „Wie weit seid Ihr zwei beide? Schon beim Du?" Wie das Zwitschern einer Blaumeise kommen aus Dittes Kehle rein textlich undefinierbare Laute. Ob das die nonverbale Textur ist, von der CKK entflammt ist? Ja, wie nun. Menschenkind nimmt diese Äußerung erst einmal positiv. Als sich aber Ditte vor das Gartentor stellt und ihrem Freund zwar so ihren ganzen prächtigen Körper anbietet, indem sie ihm den Eintritt verweigert, kommt er ins Grübeln. „Rückt sie ihn nicht raus?" Ditte legt den Finger auf ihre Oberlippe, zieht die Unterlippe durch ihre Zähne und pfeift leise.

„Erst wird der Stalin abgeholt! Habe ich über ebay organisiert. Von dem Geld kaufen wir Thälmann. Irgendwie drehen wir den historischen Vorgang einfach mal um. Halt Dich im Hintergrund bereit!"

Menschenkind hebt die Linke über seinen Schädel. „Immer bereit!" flüstert er.

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

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