Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
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Regionen ohne Zukunft

Eine Studie berichtet über Gewinner und Verlierer des demographischen Wandels

Foto: Rolf Zöllner

Allein die Kapitelüberschriften haben es in sich: „Deutschland zerfällt in Schwund- und Boomregionen", „Manche Stadt verliert ihre Funktion", „Der große Treck gen Westen" oder auch „Sachsen-Anhalt – Im Land der Leere". Selbst vor Kaya Yanars Kalauer „Raum ohne Volk" sind die Wissenschaftler nicht zurückgeschreckt: Die aktuelle Studie des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung zur demographischen Lage der Nation läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

Dabei besteht das Verdienst der Autoren weniger darin, den Deutschen nochmals zu bescheinigen, daß sie immer weniger werden, weil sie ­ relativ zur Einwohnerzahl ­ die niedrigste Geburtenrate weltweit haben, daß das Land allmählich vergreist und die Sozialsysteme zusammenzubrechen drohen. Bemerkenswert ist die Studie vor allem deshalb, weil sie nüchtern und unverblümt benennt, was von der Politik gern verschwiegen oder in hübsche Euphemismen verpackt wird: daß sich der Wettbewerb der Regionen um Bewohner verschärft und dabei die Zahl der Verliererregionen zunehmen wird, daß insbesondere im Osten aufgrund des wirtschaftlichen Kahlschlags und der Massenarbeitslosigkeit Städte und ganze Regionen schrumpfen und manche von ihnen ganz aufgegeben werden müssen, weil sie nicht mehr zu halten sind, und daß ein massives Ost-West-Gefälle besteht, wobei insbesondere prosperierende westdeutsche Länder von der Abwanderung aus dem Osten profitieren.

Die Zahlen sprechen für sich: Hoyerswerda beispielsweise hat seit der Wende ein Drittel seiner Einwohner verloren, während Erding bei München im gleichen Maße zugelegt hat. Seit 1990 haben „netto" – also unterm Strich – über 1,5 Millionen Menschen den Osten verlassen. Allein zwischen 2000 und 2004 waren es 350000, von denen ca. 60 Prozent in Bayern oder Baden-Württemberg landeten. „Wegen des günstigen Arbeitsmarktes profitiert vor allem Süddeutschland von den meist jungen und gut qualifizierten Ostdeutschen", schreiben die Autoren. Aufgrund des flächendeckenden Kindermangels gebe es einen verschärften Wettbewerb um Bewohner, „demografischer Klau" werde zur Maxime der Erfolgreichen: „Diese Entwicklung hat die im Grundgesetz angemahnte ,Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse' de facto längst ausgehebelt."

Wer in Lauchhammer, Weißwasser, Görlitz oder Bitterfeld wohnt, weiß das schon lange ­ aber es kann ja nicht schaden, auch der restlichen Öffentlichkeit inklusive der Bundespolitik mal ein bißchen Wirklichkeit nahezubringen. Die Autoren haben ihr im übrigen noch weitere unangenehme Petitessen mitzuteilen: beispielsweise, daß sich Öffentlichkeit und Politik im allgemeinen Wachstumswahn über Jahrzehnte geweigert haben, demographische Entwicklungen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen; daß Frauen es satt haben, sich als Rabenmütter beschimpfen zu lassen, nur weil sie beides wollen ­ Kinder und Beruf; daß Gesellschaft und Kommunen, wenn sie denn überleben wollen, in Familien und Kinder investieren müssen; daß Migration keine schlimme Seuche, sondern längst Normalität ist und Zuwandererkinder ein Recht auf die gleichen Bildungschancen haben wie jene deutscher Eltern; daß Kinder überhaupt eine Selbstverständlichkeit sein sollten wie in anderen Ländern auch ­ und nicht lediglich als Lärm-, Kosten- und Problemfaktor anzusehen sind ­ und daß dazu selbstverständlich auch eine vernünftige flächendeckende, qualifizierte Kinderbetreuung gehört.

Die Erkenntnis freilich, daß Regionen, die aus eigener Kraft leben sollen, auch eine funktionierende wirtschaftliche Basis brauchen, kommt für weite Teile des Ostens, der quasi über Nacht deökonomisiert und zum erweiterten Absatzmarkt des Westens gemacht wurde, um Jahre zu spät. Bis Medien wie der Spiegel anfingen zu greinen, daß ca. eine Milliarde des schönen Westgeldes im Osten versenkt wurde ­ in sinnlosen Autobahnen, der Sanierung leerstehender Gründerzeitbauten oder „beleuchteten Kuhweiden", also erschlossenen, aber toten Gewerbegebieten ­ sind 15 Jahre verstrichen. Jahre, die für Hunderttausende die Aufgabe ihrer Heimat nach sich zogen. Und diese Entwicklungen, auch das sagen die Demographen, sind mittlerweile irreversibel: Wo der Nachwuchs (insbesondere die meist besser qualifizierten jungen Frauen) abwandert, werden künftig auch potentielle Eltern fehlen. Die Leere wächst exponentiell. In Sachsen-Anhalt mußten wegen der Abwanderung zwischen 1992 und 2004 571 Schulen geschlossen werden. Der Geburteneinbruch der Nachwendezeit schlägt jedoch erst jetzt richtig zu: Zum Ende des Schuljahres 2004/05 wurden weitere 95 Schulen dichtgemacht. Und all das kommt auch auf die schrumpfenden Regionen des Westens zu ­ wo ebenfalls Milliardensubventionen sinnlos in den Sand gesetzt wurden, hier allerdings über Jahrzehnte hinweg, wie etwa im Ruhrgebiet.

„Während viele noch bürokratisch verklausuliert von ,räumlichen Disparitäten' sprechen, die es aufzuhalten gelte, verfallen längst ganze Regionen", konstatieren die Autoren. Und bis heute sehe das deutsche Raumordnungsrecht Schrumpfung einfach nicht vor. Dann wird es aber langsam Zeit.

Selbst die Bundesagentur für Arbeit warnt inzwischen vor einer „Abwärtsspirale" im Osten, dem eine „dramatische Entwicklung am Arbeitsmarkt" bevorstehe: Die Zahl der Erwerbstätigen im Osten werde in den nächsten 15 Jahren um eine weitere Million zurückgehen, die Zahl der Ostdeutschen im erwerbsfähigen Alter in den nächsten Jahrzehnten um über 50 Prozent auf 4,5 Millionen sinken.

Ulrike Steglich

> Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Die demografische Lage der Nation – Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? dtv, München 2006. 10 Euro

> www.berlin-institut.org

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