Ausgabe 02 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen"

Ilse Aichinger, unterwegs an Oberflächen und in die Vergangenheit

Als zu ihrem 80. Geburtstag im November 2001 ein neues Buch von Ilse Aichinger erschien, war das eine veritable Überraschung. Hatte sie doch seit dem schmalen Prosaband Kleist, Moos, Fasane von 1987, einem Buch mit Kurzprosa am Rande des Verstummens, geschwiegen. 14 Jahre später dann Film und Verhängnis, zum größten Teil aus Kolumnen bestehend, die zuvor in der Wiener Tageszeitung Der Standard unter dem Titel „Journal des Verschwindens" erschienen waren (s. scheinschlag 11/2001).

Dieses „Journal", fortgesetzt in den Kolumnen „Schattenspiele" und „Unglaubwürdige Reisen", die einem jetzt erschienenen zweiten Buch auch den Titel gaben, enthält keine Kolumnen im herkömmlichen Sinn. Auch wenn Aichinger sich immer wieder von Aktualitäten anregen läßt oder von den täglichen Kinobesuchen, mit denen sie ihre Zeit totschlägt, sie dienen dann doch hauptsächlich als Anlässe, sich noch einmal mit den großen Themen ihres Lebens zu befassen: mit den Kindheitsorten in Wien, den Kriegsjahren, die sie als „Halbjüdin" in ihrer Heimatstadt überlebte, der Deportation ihrer Großmutter nach Weißrußland, schließlich weiteren schweren Verlusten, etwa dem des Literaturwissenschaftlers und Journalisten Richard Reichensperger, Mentor ihrer späten Produktivität.

Unmißverständlich spricht Aichinger davon, daß ihre „Angehörigen im dritten Wiener Bezirk, die alle umgekommen sind", ihr Leben bis heute entschieden hätten, „auch jede glückliche Wendung." Und wenn sie sich im heutigen Wien bewegt, zwischen Kino und Kaffeehaus, dann ist die Topographie des nationalsozialistischen Wien allgegenwärtig. Da ist etwa der Wunsch nach einer Grießnockerlsuppe um zwei Uhr nachts, der an einer Tankstelle am Morzinplatz befriedigt werden kann ­ und Erinnerungen an die einst an diesem Platz gelegene Gestapo wachruft: „Daß der Wunsch nach Grießnockerlsuppe so rasch, wirksam und heilkräftig erfüllt wurde, grenzte an eine Gewißheit, die etwas früher den in das umgewidmete Gebäude am Morzinplatz Geratenen absurder vorkommen mußte als jedes Mystery-Science-Theater."

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen", weiß Ilse Aichinger. Das sei ihr schon ziemlich früh aufgefallen: „Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender: Sie reicht nicht zur Stille, um so mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge." Aichingers Reisen finden im Kopf statt, am Kaffeehaustisch, und sie führen in die Vergangenheit. Sie hat sehr wohl etwas zu erzählen und konsultiert schon mal einen Shanghai-Reiseführer mit „Erlebnisgarantie", eines jüdischen Zahnarztes gedenkend, der dorthin zu entkommen hoffte, den Abgrund zwischen heutigen Reise- und damaligen Fluchtplänen beklemmend verdeutlichend.

Einen Reiseführer über New York nimmt Aichinger anläßlich der Anschläge am 11.9.2001 zur Hand, ist sie doch davon überzeugt: „Die Oberflächen sind wichtig, nicht das Vorgeben von Bescheidwissen und Betroffenheit." Erlebnisgarantie auch dort, und sie findet sogar den Satz: „Es kann Ihnen ohne weiteres passieren, daß Sie Ihre Hose von der Reinigung holen wollen, aber dann nicht nur das Geschäft verschwunden ist, sondern das ganze Haus." Ein präzises Beleuchten der Oberflächen verbindet sich bei Aichinger auf faszinierende Weise mit (kultur)historischer Tiefenschärfe, oft in harten Schnitten aneinandergesetzt. Daß George W. Bush nach den Anschlägen nach Nebraska gebracht wird, kommentiert sie so: „Vielleicht weil der Geheimdienst glaubt, der Präsident sei dort unangreifbar. Da kennen sie aber nicht die Geschichte ‚Schnee in Nebraska' von Joachim Maass, die Geschichte eines entführten Jungen, wo zwölf Seiten Schrecken und Terror toben und wo außer dem möglichen Schnee keine Rettung angeboten wird. (Auch wirken aktuelle Fotos aus Manhattan jetzt wie eine Landschaft nach Schneetreiben.)"

Die faksimilierten Speisekarten, Briefumschläge und Notizzettel, auf denen Ilse Aichinger ihre Feuilletons entwirft und die den ganzen Band durchziehen, sind überflüssiges Beiwerk, verdeutlichen nichts, sondern lenken eher ab – von den Texten, die in ihrer Lakonie und Präzision ihresgleichen suchen. Am Ende von Unglaubwürdige Reisen steht ein unsentimentales Interview über den Tod, in dem Aichinger den Wunsch äussert, im Kino zu sterben. Wir dürfen dennoch hoffen, daß es sich nicht um ihr letztes Buch handelt.

Florian Neuner

* Ilse Aichinger: Unglaubwürdige Reisen. S. Fischer, Frankfurt am Main 2005. 17,90 Euro

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